Das nächtliche München hat sich verändert. Man sieht das beim beiläufigen Blick von draußen ins Leben der anderen. (Süddeutsche Zeitung) Am interessantesten ist der Mensch am Abend zu Hause. Was isst er, nachdem er den Tagesschweiß in den Wäschekorb gesteckt und Mama angerufen hat? Was macht er, wenn er nur er selbst ist oder sich in der Umgebung der Lieblingsmenschen befindet, die ihn auch mit strähnigen Haaren kennen? Wie füllt er die Zeit, die sein eigentliches Leben ist?
Man könnte aus diesen Fragen eine Geschäftsidee machen und Führungen für Touristen anbieten, die zum Beispiel München und seine Bewohner wirklich kennenlernen wollen. Jeden Abend um 19 Uhr träfe man sich und unternähme eine Wanderung durch die Wohnungen der Stadt. Im Laufe einer dreistündigen Tour könnte man an sechs oder sieben Türen klopfen und in die Küchen und die Wohnzimmer der privaten Menschen schauen. Man könnte mit ihnen plaudern. Über den abgelaufenen Tag, über die Sehnsüchte im Leben, die ja immer dann groß werden, wenn die Sonne untergeht. Die jeweiligen Gastgeber müssten sich freilich vorher beim Tourenanbieter registrieren lassen und sich einverstanden erklären, dass man sie zu einer zufällig gewählten Zeit an einem werktäglichen Abend gegen ein kleines Honorar stört. Es sollte schließlich so wenig wie möglich inszeniert sein, wenn man nachvollziehen will, was zum Beispiel in den Wohnungen der Menschen in Haidhausen nach Einbruch der Dunkelheit geschieht.
Aber solche Touren gibt es nicht, was kein Schaden ist, man will ja in einer Stadt und nicht in einem Zoo leben. Trotzdem hat die Stadt, ob sie es will oder nicht, im Vergleich zum Dorf einen Voyeurismus-Vorsprung. Man schaut im Vorbeigehen oder beim sinnfreien Blick aus dem eigenen Heim in die Wohnung gegenüber zwangsläufig und absichtslos ins Leben der anderen. Vor allem abends werden die fremden Wohnzimmer oder Küchen zu kleinen, ausgeleuchteten Bühnen, deren Szenen in die Nacht strahlen. Und diese Szenen haben sich ziemlich verändert.
Noch vor ein paar Jahren schienen wahlweise der Fernseher oder der Küchentisch das Zentrum der Wohnungen zu sein. Entweder haben die Menschen in der Küche gegessen und geplaudert oder im Wohnzimmer ferngesehen. Dieses Setting hat, so scheint es, seine Bedeutung verloren. Jetzt steht ganz häufig im Wohnzimmer oder in der Küche ein Laptop auf dem Tisch. Es steht da wie ein Ersatzkaminfeuer, das den einsamen Surfer mit der Farbe der jeweiligen Webseiten beleuchtet. Natürlich wissen wir, dass das Gerät der Kontakt zu Tausenden anderen einsamen Surfern ist, wir benutzen es ja selbst. Aber erst beim Blick in die fremden Wohnungen stellt man fest, wie es aussieht. So fahl. So einsam, dass man sich wünscht, gleich möge jemand beim Surfer an der Tür klingeln und zumindest fragen, was er denn da macht. Was er isst. Wie er seinen Abend verbringt.