Bild 2Auf der Fraueninsel im Chiemsee liegt eine der bekanntesten Töpfereien Deutschlands. Sophia könnte sie von ihrem Vater übernehmen und so eine lange Tradition fortführen. Aber will sie das? (Erschienen in der Süddeutschen Zeitung, jetzt-Magazin; Fotos: Gerald von Foris.)

 

 

Im Chiemsee liegt die Fraueninsel. Seit mehr als 1200 Jahren steht dort ein Benediktinerkloster, seit mehr als 400 Jahren gibt es dort die Töpferei Klampfleuthner, die vielleicht älteste Töpferei in Süddeutschland. Ob es den kleinen Betrieb auch in Zukunft noch geben wird, hängt von Sophia Klampfleuthner ab. Sie ist 18 Jahre alt und hat im vergangenen Jahr ihr Abitur bestanden. Sophia sagt: „Ich glaube, ich bekomme gerade eine andere Sicht auf die Dinge.“

Der Weg zu den Klampfleuthners funkelt. An diesem Sonntag im November meint es der Herbst besonders gut mit dem Voralpenland, das flache Sonnenlicht bricht sich auf den Chiemseewellen und blendet angenehm sommerlich; viele Tagestouristen, die in Gstadt am Chiemsee aufs Schiff drängen, tragen Sonnenbrillen. Sie blinzeln zur kleinen und nahen Fraueninsel, sie deuten hinüber zur weit größeren Herreninsel, wo König Ludwig II. ein Schloss nach dem Vorbild von Versailles bauen ließ. Nach zehn Minuten Fahrt legt das Schiff im Osten der Fraueninsel an, und die Menschen gehen entdeckungslustig im Gänsemarsch über den Steg und direkt zum Kloster. Oder sie biegen nach rechts in den Uferweg, der einmal um die Insel und schon nach wenigen Metern zur Inseltöpferei führt. Georg Klampfleuthner hat das Schiff schon kommen sehen, er wartet zwischen Vasen und Tassen und Vogeltränken und Kacheln und Engelskrügen und Weidlingen auf die Besucher. Jetzt gerade ist es ruhiger, aber im Sommer arbeiten er oder seine Schwester Andrea sieben Tage die Woche an der Töpferdrehscheibe. Die Werkstatt steht im Laden, wer zu Besuch kommt, kann zuschauen. Seit 403 Jahren existiert die Töpferei an diesem Platz, und seit 289 Jahren ist ein Mensch mit dem Namen Klampfleuthner ihr Chef. So viel Kontinuität ist selten, und darum geht es jetzt im ersten Stock des Hauses, am Küchentisch. Georg und Isolde Klampfleuthner haben nämlich zwei Töchter. Felicia ist 21, Sophia 18 Jahre alt. Wenn die Töpferei auch in den nächsten 400 Jahren ein Familienbetrieb bleiben soll, müsste eine der beiden übernehmen.

„400 Jahre sind eine verdammt lange Zeit“, sagt Felicia und schaut aus dem Fenster auf den Uferweg, wo die Sonnenbrillenträger vor­beispazieren und neugierig in den Garten der Töpferei schauen. „Man denkt sich immer: Wenn man die Generation ist, an der es scheitert, ist es auch scheiße.“ Felicia weiß allerdings, dass sie den Betrieb nicht übernehmen wird. In der Schule war Kunst ihr schlechtestes Fach, und jeder in der Familie berichtet von ihrem Interesse an Naturwissenschaften. Sie studiert heute Biologie in München. „Bei mir würde der Betrieb schnell den Bach runtergehen“, sagt sie, und ihr Vater lächelt über diese entschiedene Bescheidenheit. Dann sagt Felicia in Richtung Sophia: „Es tut mir eigentlich leid, weil dadurch der Druck auf dir liegt.“ Der Vater schüttelt sofort den Kopf. „Nicht wirklich, den Druck darf sie sich nicht machen.“
Georg Klampfleuthner, 48, stand vor der ähnlichen Situation. Sein Vater schickte ihn einst aufs Gymnasium und gab ihm danach jede Freiheit, über seine Zukunft selbst zu entscheiden. „Er hat gesagt, er möchte von mir nie hören, er habe mich in die Töpferei gezwungen. Er hat mir vor der Entscheidung nur einen freundschaftlichen Tipp gegeben: Entweder du wirst Töpfer auf der Fraueninsel oder Bundeskanzler – alles andere ist Schmarrn.“ Der junge Georg entschied sich für die Keramikerausbildung in Landshut und dachte irgendwann: „Eigentlich ist es ganz nett.“ Als er drei Jahre später nach Hause kam, hatten Vater und Mutter die alte Werkstatt abgerissen und eine neue gebaut. Der Vater war zu jener Zeit sechzig Jahre alt, und Georg Klampfleuthner dachte: Den kann ich jetzt auch nicht allein lassen. „Und so bin ich pappen geblieben“, sagt er.

Im ganzen Land gibt es handwerkliche Betriebe, Geschäfte, Bauernhöfe, kleine Gewerbe, die von einer fleißigen Generation aufgebaut oder bewahrt wurden. Diese Generation wird älter und fragt dann vorsichtig bei den Kindern: Habt ihr Lust? Und das ist dann die Frage: Hat man Lust, das fortzuentwickeln, was die Eltern aufgebaut haben? Hat man Lust, sein Leben mit einem Ort zu verknüpfen? Wie wichtig ist noch mal Tradition?

Sophia ist an diesem Novembersonntag nur zu Besuch auf der Insel. Sie studiert jetzt in Regensburg Kulturwissenschaft, Kunstgeschichte, Philosophie, drei Wochen ist das erste Semester gerade alt. „Im Moment habe ich den Plan, mein Studium zu machen, dann eine Ausbildung zur Keramikerin. Dann will ich heimkommen, arbeiten, meinen Meister machen und den Betrieb übernehmen.“ So sagt sie es, und so hat sie es am Tag vorher auch ihrer Tante Andrea und ihrer Großmutter Annemarie erklärt. Die beiden waren erstaunt. „Sie haben mich nur angeschaut, und die Oma hat gesagt: Das ist jetzt ein Spaß, oder?“ Dazu muss man wissen, dass die Großmutter nichts lieber sähe als eine Sophia als Inseltöpferin. „Wenn ich als Kind zu ihr rübergegangen bin und ihr gezeigt habe, was ich in der Schule gemalt hatte, dann hat sie gesagt: Mei, unsere Künstlerin. Du übernimmst mal die Töpferei.“ Die Großmutter drängt nicht, sagt Sophia. „Sie würde nie offen sagen: Mach! Weil sie weiß, dass ich dann trotzig reagieren würde.“ Aber die Großmutter kann ihre Freude nicht verbergen, wenn sie die Ahnung davon bekommt, dass es weitergehen könnte. Sie hofft still. „Manchmal“, sagt Sophia, „habe ich ein schlechtes Gewissen, dass ich zum Studieren gegangen bin.“

Das mit der Tradition ist so eine Sache. Soll man wirklich sein Leben danach richten, was war, als man noch nicht auf der Welt war? Hartmut Drexel von der Handwerkskammer München und Oberbayern sagt: „Einen Betrieb zu übernehmen, nur weil eine Tradition da ist, reicht nicht als Antrieb. Tradition ist kein rationales Argument.“ Drexel rät dazu, nur dann einen Betrieb zu übernehmen, wenn man sich voll damit identifizieren könne. Bei der Industrie- und Handelskammer in München kümmert sich Markus Neuner um Nachfolgefragen. Er sieht, wie auch Hartmut Drexel, immer mehr selbstbewusste potenzielle Nachfolger, die kühl abwägen und nur dann in einen Betrieb einsteigen, wenn er von den Eltern so geführt wurde, dass er eine in­ter­essante Perspektive bietet. „Der Trend geht hin zu intelligenter Arbeit“, sagt Neuner. Je kreativer oder anspruchsvoller die Arbeit ist, so Neuner, desto leichter findet ein Betrieb einen Nachfolger. Die größten Probleme haben Einzelhändler. Neuner weiß von Trach­tenmodengeschäften und Küchenstudios, die auch nach langer Suche keinen Nachfolger finden, weil der reine Verkaufsjob nur sehr wenige reizt.

Ein paar Wochen und Monate vergehen, Sophia erlebt ihr erstes Semester. An den Wochenenden pendelt sie zu ihrem Freund nach Dresden oder auf die Insel. An zwei Adventswochenenden ist Weihnachtsmarkt. Mehr als 50 000 Menschen setzen mit dem Schiff zur Fraueninsel über, die Idee vom besinnlichen Advent passt gut zur Abgeschiedenheit einer Insel.

„Die Insel ist nichts anderes als ein Dorf“, sagt Georg Klampfleuthner. Dieses Dorf war einmal eine Welt für sich, mit Kindergarten, Gymnasium, Hallenbad, Friseur, Doktor, Bäcker und so weiter, Klampfleuthner kann viele verlorene Einrichtungen aufzählen, die einmal das Gerüst eines echten Dorflebens waren. Sie sind verschwunden. „Die soziale Struktur auf der Insel ändert sich massiv“, sagt Klampfleuthner. Jeder kommt nun mit seinem eigenen Boot auf die Insel, jeder muss am Festland einkaufen. Während Georg Klampfleuthner noch mit zehn Freunden über die Insel tigerte, hatte Sophia ihre Freundinnen auf dem Festland. Es gab Phasen, in denen sie das Inselleben auch richtig leid war. „Ich wollte, wie meine Freundinnen, auf dem Festland wohnen und habe meine Eltern gefragt, ob wir nicht wenigstens im Winter rüberziehen können.“ Der Vater lächelt noch heute über den Wunsch. Und es kamen ja andere Zeiten, in denen Sophia den Stolz auf ihre Herkunft entdeckte, als Bekannte beim Ausgehen anerkennend die Augenbrauen hoben und „Ah, die Klampfleuthnerin“ sagten.

Die „Inseltöpferei“ ist in der Region eine Art eingetragener Begriff. Und auch darüber hinaus. Als Sophia in Regensburg in der ersten Kunstgeschichtevorlesung sitzt, prüft die Professorin die Anwesenheit. Bei Sophias Nachnamen stutzt sie  — und erzählt schließlich, dass eine Lampe aus der Inseltöpferei bei ihr zu Hause stehe.

Vielleicht ist es deshalb auch ganz normal, wenn Sophia und Felicia immer wieder die Frage hören: „Machst du weiter?“ Vielleicht ist es verständlich, wenn die Großmutter bei einem Telefonat im Februar erzählt, wie sie erst selbst verstehen musste, dass man Kindern und Enkelkindern nicht einfach die Begeisterung implantieren kann, die man selbst für eine Sache hegt, also für die Töpferei. „Man muss die Kinder das lernen lassen, was sie lernen wollen“, sagt die Großmutter. „Sophia wollte raus. Sie ist glücklich in Regensburg.“ Dann wird Annemarie Klampfleuthner einen Moment lang still und stockt. Die Diskussion gehe ihr immer wieder nahe. „Ich habe da oft Tränen in den Augen und muss mich zusammenreißen.“

Sie ist von draußen ans Telefon geeilt. Der See ist bei arger Kälte zugefroren, und Georg versucht gerade, das Boot aus dem Eis zu hacken. Annemarie Klampfleuthner hat versucht, mit einem Eimer heißen Wassers zu assistieren. Sie hat mit 18 Jahren auf die Insel geheiratet. Damals erfuhr sie die lange Geschichte der Familie. Dass der erste Klampfleuthner aus der Steiermark kam, ein Ofensetzer, und sich auf Bitten der Äbtissin des Klosters auf der Insel niederließ. Damals begann die Ahnenreihe. Die Großmutter erzählt von Menschen, die zuletzt vor fünfzig Jahren auf der Insel waren und wiederkommen und voll Bewunderung sehen, dass der Betrieb immer noch in Familienhand ist. Der Mensch freut sich an Dingen im Leben, die konstant bleiben. Der Mensch freut sich an Zusammenhängen, die in die Vergangenheit reichen, weil der Mensch überhaupt so gestrickt ist, dass er dort einen Sinn im Leben erkennt, wo Verbindungen existieren. „Wenn jemand weitermacht, das ist doch was Schönes. Es ist ein großes Glück, wenn man das erleben darf“, sagt Großmutter Annemarie. Und schließlich: „Es wäre schön, erleben zu dürfen, dass Sophia weitermacht.“

„Das erste Semester war gut“, sagt Sophia Ende Januar in Regensburg, kurz vor der Prüfungszeit. Sie hat anhand der drei Berufsgruppen Klosterschwester, Fischer und Töpfer den sozialen Wandel auf der Fraueninsel beschrieben und dafür eine 1,3 bekommen. Sie hat Freundinnen gefunden, eine hat sie sogar schon auf der Insel besucht und ihre Heimat bewundert. An der Wand im Flur der Zweier-WG hängt eine Übersicht zu den Epochen der Kunstgeschichte. Langsam nimmt der Druck zu, die ersten Prüfungen stehen an, und es hat sich etwas verändert. Der Umzug hat Sophias Sicht auf das Leben verändert. Der Plan mit dem Studium und der Keramikerausbildung steht noch, sagt sie. „Aber es ist ja auch nur ein Plan. Ich glaube, es kommt noch was dazwischen.“ Das Fernweh. Sie hat direkt nach der Schule angefangen zu studieren. Gerade erlebt sie, wie Freunde aus der Oberstufe zurückkehren — aus Südafrika, aus Vietnam. „Ich würde total gern ins Ausland gehen“, sagt Sophia jetzt. Sie spricht von ein paar Monaten, vielleicht von einem Jahr, nach dem Bachelorabschluss. „Ich habe richtig Lust rauszukommen“, sagt sie und formuliert den Plan aus dem November neu: „Erst Studium, dann Ausland ­— und dann mache ich eventuell eine Ausbildung zur Keramikerin und übernehme den Betrieb meiner Familie.“ Das Wörtchen „eventuell“ hat sich hinzugemogelt. Das muss aber nichts heißen. Vielleicht verschwindet es ja wieder. Sophias Vater zumindest ist auf alles vorbereitet. „Tradition ist schon gut und wichtig“, sagte Georg Klampfleuthner im November am Küchentisch. „Aber sie darf einen Menschen nicht knechten. Die Priorität für einen Insulaner und auch für den Nachfahren in einem 400-jährigen Unternehmen ist es, ein Leben zu führen, von dem er mit achtzig Jahren sagen kann: Es war ein gutes Leben.“ Das ist möglicherweise ein Satz, der nicht nur im Chiemsee gilt.

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