Viele Eltern wollen ihre Jungs ohne Rollen-Klischees erziehen. Aber was machen die Kerle? Stehen immer noch auf Traktoren und Radlader. (Reportage, Süddeutsche Zeitung, SZ am Wochenende, 2. April 2011.)
Einmal habe ich meinen Patensohn Jakob von seinen Großeltern zu seinen Eltern gefahren. Die Oma setzte den damals zwei Jahre alten Menschen zu mir ins Auto, sie legte eine Plastikdose mit Gurkenbrocken und Butterbrot neben seinen Sitz und dann rollten wir 500 Kilometer über die Autobahn. Es war eine entspannte Fahrt. Ich erzählte Jakob Geschichten, dann klaute ich mir eine Gurke, und er schaute aus dem Fenster. Er schien dauernd auf der Suche zu sein, und dreimal fand er was. Immer wenn wir an Baustellen vorbeikamen, schrie er „Bagger“.
Als ich Jakobs Vater nach der Ankunft von der Aufregung erzählte, nickte er und deutete ins Kinderzimmer. Jakob teilt seinen Lebensraum mit Spielzeugbaggern und „Bob dem Baumeister“. Das ist eine Kinderbuchfigur, die sich in ihren Geschichten mit kuhäugigen Baumaschinen umgibt. Jakobs Eltern versicherten mir, dass sich die Ausrüstung aus seinen Vorlieben ergeben habe. Eine Erklärung hatten sie nicht. „Würde mich selbst interessieren“, sagte der Vater.
Es ist mindestens eigenartig, dass selbst nach Jahrzehnten vermeintlich gleichberechtigter Erziehung immer noch nicht ganz klar ist, warum Mädchen tendenziell lieber vor Puppen hocken und Jungs auf Traktoren. Woher kommt diese Zuordnung – hier Puppe, dort Auto, hier rosa, dort blau? Ist das vererbt? Ist das erlernt?
In Garching bei München kümmert sich das Unternehmen Zeppelin um den Vertrieb der Radlader und Bagger des amerikanischen Herstellers „Caterpillar“. Sprecherin Janina Knab kennt die Faszination vieler Männer für die gelben Maschinen. In einer Mail schickt sie Fotos von einer Baumaschinenmesse, auf denen eine überdimensionale Radladerschaufel zu sehen ist, in der sich fast ausschließlich Jungs- und Herrengruppen für ein Foto zusammenfinden. Manche winken glücklich ins Objektiv. „Radlader bewegen Erdmassen“, sagt Knab. „Sie können etwas zerstören und aufbauen. Vielleicht geht es den Männern um den Reiz, die Naturgewalten zu beherrschen.“ Knab hat ein Interview mit dem Hirnforscher Hüther gefunden. „Lesen Sie“, rät sie. „Die Vorliebe für Bagger hat mit Testosteron zu tun.“
Professor Gerald Hüther hat ein Buch darüber geschrieben, wie ein Mann zum Mann wird.(„Männer – Das schwache Geschlecht und sein Gehirn“) Für das menschliche Gehirn ist er das, was Ranga Yogeshwar für Atomkraftwerke ist: ein guter Erklärbär. Im Interview sagt er, dass man das kindliche Gehirn mit einem Orchester vergleichen könne.Die Besetzung sei bei Jungs und Mädchen gleich. „Aber wegen der vorgeburtlichen Testosteroneinwirkung rücken im Orchester der kleinen Jungen die Pauken und Trompeten stärker nach vorne, während die harmonischen Instrumente in den Hintergrund treten.“ Echt? Ist es so einfach?
An einem Freitagabend setzt sich Doris Bischof-Köhler auf die Couch in ihrem Wohnzimmer am Starnberger See. Die Professorin lehrt Entwicklungspsychologie an der Münchner Universität und hat viel über Mädchen und Jungs geschrieben, von ihr stammt zum Beispiel das Buch „Von Natur aus anders: Die Psychologie der Geschlechtsunterschiede“.
„Wir kommen nicht als Tabula rasa auf die Welt“, sagt Doris Bischof-Köhler, Mutter von drei Kindern. „Wir haben viel in uns, was uns hilft, einen Anker zu finden. Wenn wir diese Anlagen nicht hätten, könnten wir uns in der Welt nicht zurechtfinden.“ Bischof-Köhler sagt, dass die Natur uns einen wesentlichen Teil unserer Geschlechterrolle in die Wiege legt. Sie erzählt vom adrenogenitalen Syndrom. Es gibt Frauen, die vor ihrer Geburt einem erhöhten Testosteronspiegel ausgesetzt waren. Diese Frauen benehmen sich später wie Jungen. Sie sind aggressiver, sagt Bischof-Köhler, sie raufen gern und spielen lieber mit Jungenspielsachen. Bischof-Köhler holt noch weiter aus. „Ich argumentiere evolutionsbiologisch“, sagt sie und spaziert mit ihren Worten in die Vergangenheit. Die Unterschiede im Verhalten seien gut 400 Millionen Jahre alt. Bei im Wasser lebenden Tieren legen die Weibchen ihre Eier und die Männchen geben ihren Samen dazu. Fortpflanzung ist unter dieser Bedingung eine leidlich gleichberechtigte Angelegenheit. Für Tiere, die an Land leben, wurden die Dinge schwieriger. Die Weibchen mussten das Leben im Körper schützen und konnten deshalb nicht dauernd Nachwuchs zeugen. Die Männchen schon. Weil die Zahl der Weibchen begrenzt war, mussten die Männchen um sie kämpfen. „Dieser Selektionsdruck hat im männlichen Geschlecht die Kampf- und die Risikobereitschaft begünstigt. Und an der Risikobereitschaft hängt eine Menge, unter anderem die Vorliebe für Bagger, weil alles, was man bewegen kann, was vielleicht auch unvorhergesehene Bewegungen macht, Aufregung erzeugt und deshalb interessant ist.“ Doris Bischof-Köhler atmet durch. „Die Disposition zur Rivalität ist am Testosteron verankert. Es beeinflusst Zellen im Gehirn, die dann das Verhalten beeinflussen. Aber das leuchtet nicht jedem ein“, sagt die Wissenschaftlerin. „Als ich in den Achtzigern darüber Vorlesungen gehalten habe, habe ich vorher gebetet: ,Lieber Gott, gib mir den Mut, das zu sagen, was ich sagen muss! Auch wenn sie mir faule Eier an den Kopf schmeißen.‘“
Marianne Grabrucker zum Beispiel winkt noch heute beim Wort „Evolutionsbiologie“ ab. Drei Jahre lang gab sie sich alle Mühe, ihre kleine Tochter geschlechtsneutral zu erziehen. Grabrucker war überzeugt, dass die Gesellschaft dem Menschen die Geschlechterrolle aufzwingt, und sie wollte sehen, ob man dem Zwang entgehen kann. Mehr als 25 Jahre sind seit ihrem Versuch vergangen. Grabrucker ist heute Vorsitzende Richterin am Bundespatentgericht in München und klingt so, als sei das Buch zum Experiment, „Typisch Mädchen . . .“, eben erst in den Handel gekommen: „Ob ein Junge Bagger spielt, liegt nicht in den Genen. Es gibt vielmehr ein Gesamtgefüge, in dem der Bub nicht anders kann, als Bagger zu spielen. Kinder haben das Bedürfnis, so zu sein wie die Majorität in der Umgebung. Mein Buch zeigt, dass sich das auch durch eine individuelle Erziehungsleistung nicht ändern lässt.“ Grabrucker erzählt von einer Szene mit ihrer Tochter. „Ich war im Mutter-Kind-Turnen, alle Kinder hatten einen Ball, und ein Bub hat meiner Tochter immer wieder ihren Ball aus der Hand geboxt. Nach dem dritten Mal fing sie zu plärren an. Da sagte die Mutter des Jungen, dass er halt in der Trotzphase sei. Dass aber auch Mädchen in der Trotzphase sein können, fällt niemandem auf. Mit solchen Erklärungen lernen die Mädchen, sich an der Befindlichkeit der anderen zu orientieren.“ Grabruckers Lehre aus dem Versuch hat sich in all den Jahren nicht geändert. „Es gibt eine genetische Verankerung des Geschlechts, aber der Schwerpunkt liegt glasklar auf der Sozialisation. Die Begründung mit der Evolutionstheorie lehne ich an der Stelle ab. Ich vergleiche mich nicht mit Menschen, die vor 200 000 Jahren gelebt haben. Das ist ein volksverdummender Ansatz. Unser Leben ist anders, die sozialen Komponenten sind andere, als dass man uns mit früher vergleichen kann. Wenn alles vererbt wäre, bräuchte man ja auch politisch nichts mehr ändern. Das wäre für viele Leute furchtbar bequem.“
Grabruckers Tochter hat das Buch erst vor gut fünf Jahren gelesen. Die Mutter hatte Furcht vor der Reaktion, aber es ging gut. Die Tochter verschenkte den Band sogar an Freundinnen, sie hat das Experiment überstanden. „Sie ist sehr weiblich und zieht sich auch sehr weiblich an“, sagt Grabrucker und muss, das hört man, bei dem Satz lächeln.
Doris Bischof-Köhler hört aus solchen Reden Angst, die aus einem falschen Biologieverständnis komme. „Manche denken, was veranlagt ist, determiniere uns im Verhalten. Manche denken, es gebe da ein Gen, das erst zum Rivalisieren zwinge und dann zur Diskriminierung der Frau, und deshalb müsse man die Biologie leugnen.“ Doris Bischof-Köhler glaubt, dass man die Sache mit der Disposition entspannter sehen müsse. „Wir können gegen unsere Neigungen handeln und sogar freiwillig auf Essen verzichten und fasten. Die Natur zwingt uns zu nichts. Aber sie fordert einen Preis. Wenn wir gegen unsere natürlichen Neigungen handeln, müssen wir uns mehr Mühe geben.“
Es ist eigenartig, wie umstritten die Antwort auf die Baggerfrage ist. Sie führt in das gespaltene Selbstverständnis einer Gesellschaft, die immer mehr Spaß an wissenschaftlichen Welterklärungen findet und dann doch Angst davor hat, dass irgendwann jede menschliche Handlung von einem Hirnforscher auf die erbliche Anlage zurückgeführt werden könnte. Die Baggerfrage kann einen kirre machen. Irgendwann kommt mir in den Sinn, dass ich Jakob zur Taufe einen Tret-Traktor geschenkt habe. Ich hatte das vergessen. Was wollte ich? Ihn im Kreis der Männer willkommen heißen? Seine Disposition zum Mann hübsch heranfüttern?
Die Autorin Lisa Ortgies lacht, als sie die Geschichte hört. „Oder suchen Sie mit solchen Geschenken selber nach Ihrer Identität? Mein Mann saß mal mit unserem Sohn auf dem Boden und hat eine Eisenbahn zusammengebaut. Da nimmt der Junge sein Spielzeugpferd und haut ab. Und mein Mann spielt alleine weiter.“ Lisa Ortgies moderiert die Sendung „Frau TV“ im WDR und war mal Chefin der Emma . Ihre Tochter ist sieben Jahre alt und der Sohn vier. Vor allem Gleichaltrige, sagt Ortgies, prägten die Kinder. „Mein Sohn hat sich einen Rock meiner Tochter geliehen und ist damit stolz in die Kita gelatscht. Er erwartete Applaus. Aber seine Peergroup von Rabauken-Jungs hat ihn den ganzen Tag gehänselt. Er ist ganz fertig heimgekommen. Seitdem weigert er sich, auch nur eine Socke anzuziehen, die ein rosa Emblem hat.“
Als das Gespräch auf das Testosteron und auf Studien zum Geschlechterunterschied kommt, wird Ortgies ungeduldig. „Für mein letztes Buch habe ich recherchiert, welche Studien eigentlich in der Öffentlichkeit landen. Von zehn Studien stellen neun keinen kognitiven Unterschied zwischen den Geschlechtern fest. Aber die eine, die einen Unterschied vermeldet, landet in der Zeitung.“ Ortgies misstraut der Erklärung, dass das Testosteron den Unterschied besorge. „Es gibt Metastudien, nach denen Testosteron nur bei der Libido Auswirkungen zeigt.“ Ortgies glaubt den Neurobiologen, die heute davon ausgehen, dass das Gehirn formbar ist. Erst mit seiner Nutzung wachsen Stärken – oder die Schwächen bei Nichtnutzung. „In allen Menschen steckt alles“, sagt sie und fügt einen Satz an, der keine Antwort auf die Baggerfrage ist, aber trotzdem etwas bedeutet: „Wir müssen endlich aufs Individuum schauen und nicht immer nur aufs Geschlecht.“
Jakob hat den Tret-Traktor mittlerweile seinem zwei Jahre jüngeren Bruder Manuel vermacht. Und Manuel trug neulich ein Sweatshirt, auf dem „Construction“ steht. Darunter ist ein Bagger zu sehen. Soweit ich weiß, habe ich damit diesmal nichts zu tun. Aber was weiß man schon.