Über Geschichten und Lebenslehren und Journalisten als Seelsorger
Für ein Buch habe ich recht viele Menschen nach den Lehren ihres Lebens gefragt. In den Gesprächen ging es immer um dieselben Fragen: Was haben Sie erlebt? Was haben Sie dabei gelernt? Einfache Sache, eigentlich. Ich habe sogar eine Umfrage bei TNS Infratest in Auftrag gegeben und fünfhundert Frauen und Männer nach Umbrüchen und Erkenntnissen gefragt. Eine meiner Lieblingslehren: Sieh zu, dass du zu jeder Zeit eine Sache machst, die dir am Herzen liegt. Das kann ein Hobby sein, ein Projekt, die gute alte Passion. So kannst du immer sterben, ohne dir ein Versäumnis vorwerfen zu müssen.
Aber das ist nicht die einzige Erkenntnis.
Ich war mal ein journalistischer Trottel und dachte, guter Journalismus habe in erster Linie mit dekorativem Schreiben zu tun. Haha! Jaja. Ich dachte auch mal in Themen, von wegen: LKW-Fahren, das ist doch ein interessantes Thema. Haha! Naja. Erst nach zu langer Zeit wurde mir bewusst, dass es nicht um den geilen ersten Satz geht oder um irgendein vermeintlich interessantes Themenfeld. Es geht bloß um Geschichten. Recht simpel. Um einfache Erzählungen, die aber so interessant sind, dass man sie weitertragen will. Sieben Kinder fahren allein mit dem Kanu in den Urlaub. Polizist adoptiert Kind, dessen Mutter vom Vater ermordet wurde. Kabarettist sucht NS-Verbrecher. In der Art.
Geschichten unterhalten und geben dem Leben Struktur. Sie fügen einzelne Erlebnisse zu einer sinnhaften Erzählung. Und das ist nicht zu verachten: Wo der Mensch Zusammenhänge sieht, erkennt er Sinn.
Meine Gesprächspartner hatten es nicht leicht mir mir. Sie mussten ihr Leben in eine Geschichte fassen und dann auch noch eine Lehre ziehen. Niemand macht das im normalen Leben, weil es mühsam ist. Aber es ist den Versuch wert. So hölzern die Frage nach einer Lebenslehre klingen mag, sie kann eine unheimliche Kraft entfalten. Sie ist wie ein Schlüssel zu einem intensiven Gespräch über das Leben. Man kann das selbst rausfinden. An Weihnachten zum Beispiel. Den Stollen zur Seite schieben und fragen: Mama, Papa: Was hast du erlebt? Was hast du dabei gelernt? Was davon kannst du mir noch weitergeben?
Eine Lehre ist die Sahnehaube einer Geschichte. Das „Take away“, wie der Amerikaner vielleicht sagt, die Moral zum Mitnehmen, die Erkenntnis-Injektion fürs eigene Leben. Wie ergeht es den Kanu-Kindern unterwegs? (Und was lerne ich daraus?) Wie lebt der Polizist mit dem Waisen zusammen? (Und was lerne ich daraus?) Was treibt den Kabarettisten? Welche Erkenntnis steckt in den Leben der anderen für mein eigenes Leben?
Der Spiegel-Reporter Cordt Schnibben hat neulich übers Schreiben geschrieben und eine sehr wesentliche Lehre notiert: „In den Geschichten von Menschen Aufschluss zu finden über sich selbst, ist für viele Reporter immer wieder der Antrieb fürs Schreiben. Im Reporter lauert ein Thema, ein Problem, eine Geschichte, der er ausweicht, um die er kreist, der er sich annähert, indem er über andere Menschen schreibt – bis es Zeit wird, über sich selbst zu schreiben.“
Ich kann das unterschreiben. Ich bin sicher, dass viele Journalisten mit den Geschichten, die sie schreiben, in Wahrheit etwas über sich selbst erfahren wollen. Sie wollen Fragen beantworten und Lehren erfahren, die ihnen helfen, ihr eigenes Leben zu verstehen. Zumindest geht es mir so. Journalismus ist mein persönliches Werkzeug zum Verständnis des Lebens. Ich suche stellvertretend für meine Leser nach Antworten auf Lebensfragen. So helfe ich nicht nur mir, so helfe ich auch anderen.
Cordt Schnibben hat über die Rolle seines Vaters in der Nazizeit geschrieben. Er hat eine private Frage aufgearbeitet und viel Lob dafür bekommen. Warum ist das so? Warum stehen Leser auf gute Ich-Geschichten? Lena Dunham kennt die Antwort. Die Schauspielerin und Autorin hat kürzlich erklärt, weshalb sie es sinnvoll findet, viel und ehrlich von sich zu erzählen. Sie sagt: „The personal is political. (…) By sharing things that are close to you, you will connect other people, who feel alone in the world.“
Geschichten (und die zugehörigen Lehren) bieten Orientierung und Halt in einer Welt, in der er es mit Halt gerade nicht so gut aussieht. Wer sie sucht und aufschreibt und verbreitet, ist im Grunde ein Seelsorger. Journalisten sind Seelsorger.
P.S. Jedes Leben braucht eine Küche zum Erzählen, einen Balkon zum Loslassen, ein Wohnzimmer für die Lieben und eine Werkstatt zum Machen. Das ist die Essenz meines Buches.