Muss man sich als Politiker irgendwann von den Idealen und Überzeugungen seiner Jugend verabschieden? 20 Bundestagsabgeordnete erzählen (Erschienen in der Süddeutschen Zeitung und hier auf jetzt.de).
Eigentlich ist das hier eine Zumutung. Wenn man Politikern einfach so das Wort erteilt und über ihr Politikersein reden lässt, besteht die Gefahr, dass es gleich langweilig wird. Politiker äußern sich oft sehr bedächtig über ihre Arbeit. Es soll ja jeder denken, dass sie ganz viel tun und dass Demokratie Spaß macht. Aber vielleicht ist diese Geschichte hier, in der 20 Bundestagsabgeordnete darüber reden, wann sie während ihrer Arbeit in der Politik ernüchtert wurden, doch ein bisschen anders.
Der Ursprung der Texte, die du unter anderem im Label 20 Abgeordnete und über die Übersicht weiter unten findest, hat mit Guttenberg und Atomkraft zu tun. In den Tagen nachdem Karl-Theodor zu Guttenberg von seinem Amt als Verteidigungsminister zurückgetreten war, weil er doch seine Doktorarbeit in üppigem Umfang kopiert hatte, kamen viele Menschen ins Grübeln. Der Oberfranke war als Betrüger entlarvt worden und hatte trotzdem noch ganz viele Freunde. Wie geht das? Einige Beobachter schrieben, dass die Menschen es wohl mögen, wenn mal ein Politiker aus der Reihe der graugesichtigen Arbeiter im Weinberg der Demokratie hervorsticht. Echte Politiker müssen nämlich dauernd Kompromisse schließen und Kompromisse, so denken viele, sind eine halbgare Sache. Guttenberg vermittelte den Eindruck, Politik auch mit großer Geste und ganz viel Überzeugung machen zu können. Guttenberg hat eine ganze Reihe von Überzeugungen, das hat er in vielen Reden betont. Und es macht ja auch Spaß, Politikern zu lauschen, die keinen Bock auf Kompromisse haben.
Blöd ist nur, dass man in der Politik unter Umständen nicht so weit kommt, wenn man nur auf seinen Überzeugungen reitet. Vielleicht ist Guttenbergs Werdegang dafür ein Beispiel. Sehr sicher ist Barack Obama eines. Der amerikanische Präsident hat jetzt wieder bessere Umfragewerte, weil er häufiger bei seinen Konkurrenten, den Republikanern anruft. Oder Angela Merkel. Viele beklagen, dass sie so wässrig spreche und dass sie keine Überzeugungen vertrete. Die Bundeskanzlerin hatte ursprünglich die Verlängerung der Laufzeiten der deutschen Atomkrafwerke mit ausgemacht. Als vorvergangene Woche der Tsunami an die Küste Japans rollte und unter anderem im Atomkraftwerk von Fukushima viel Schaden hinterließ, änderte sich aber etwas. Sehr wahrscheinlich werden ein paar der ältesten deutschen Kernkraftwerke nun für immer ausgeschaltet bleiben. In den Zeitungen las man von einer „atemberaubenden“ Wende, die die Kanzlerin in der Atompolitik vollzogen habe. Diese Wende hat mit der aktuellen Angst vor der Katastrophe zu tun. Vielleicht hat sie aber auch damit zu tun, dass es nicht besonders einfach ist, in der Politik eine Überzeugung durchzuhalten.
Gut 110 Bundestagsabgeordnete haben neulich eine Mail aus der jetzt.de-Redaktion bekommen. Es ging darin um die einfache Frage, ob man seine Ideale und Überzeugungen abgeben muss, wenn man in die Politik geht oder ob Politik eigentlich gar nicht der richtige Ort für einen Überzeugungstäter ist? Beim Erwachsenwerden ist es ja manchmal genauso. Bis man 30 ist, kann man ganz gut in dem Glauben leben, dass man die Welt ganz grundsätzlich verändern kann. Wenn man dann aber anfangen will, im Beruf zum Beispiel, sind die Dinge doch nicht so leicht. Im Gegenteil. Die Welt ist sehr kompliziert und lässt sich selten mit einem Ruck, höchstens mit ganz vielen Rückchen verändern. Kann es sein, dass es in der Politik ähnlich ist? Wenn ja: Wie sieht der Punkt aus, an dem man als Politiker seine Unschuld verliert und ernüchtert wird?
Immerhin 20 Abgeordnete wollten über die Frage nachdenken. Sie schrieben Mails oder kleine Gastbeiträge oder luden zum Interview nach Berlin. Ekin Deligöz von den Grünen beschreibt, wie sie nach dem Einzug in den Bundestag die Kälte ihrer Parteikollegen zu spüren bekommt. Armin Schuster von der CDU erzählt, wie er vor eineinhalb Jahren, kurz nachdem er in den Bundestag kam, seine wichtigste Überzeugung an den Nagel hängen musste. Lukrezia Jochimsen von den Linken erklärt, dass es auch sein Gutes habe, wenn einem seine Ideen einfach geklaut würden. Manche der Antworten sind aber auch unbekümmert fröhlich. Axel Schäfer von der SPD etwa betont, dass ihn in der Politik nur einmal eine verlorene Wahl frustriert habe. (Und die hat er interessanterweise leichter verdaut, weil er eine Tumoroperation überstanden hat.) Die Texte legen in ihrer Summe offen, wie Politik im Bundestag funktioniert, sie enthalten fast alle das langweilige Wort „Kompromiss“. Krista Sager von den Grünen nennt den Kompromiss sogar „die Seele der Demokratie“. Ohne ihn gehe nichts. Vielleicht ist man erwachsen, wenn man das erst einmal verstanden hat.Die