Viele Deutsche lassen sich lieber unter einem Baum begraben statt auf dem Friedhof. Was treibt sie um? Eine Erkundung. (Erschienen in Süddeutsche Zeitung, SZ am Wochenende, September 2010.)

Seit ein paar Jahren kann man sich im Wald nahe Uetze in Niedersachsen unter Bäumen begraben lassen. An einer Eiche zum Beispiel haben die zuständigen Förster acht Urnengräber ausgewiesen, die aber mittlerweile schon verkauft sind. Vielleicht ist es kein Wunder. Der Baum steht stattlich nahe der Fuhse, einem Bächlein, das niedlich durch den Wald mäandert. An die Borke sind zwei Metallplaketten geheftet. Auf der einen stehen Ort und Nummer des Baumes: „UET 148“. Auf der anderen stehen die Namen der Toten, die dort bereits beigesetzt wurden: Rolf Böker, der sich für seine Frau konfirmieren ließ. Irmgard Kohnert, die an Seidenbändern zu Grabe getragen wurde. Ulrich Bernitzki, dessen Frau zur Beerdigung das rote Kleid anlegte. Peter Hübner, Vietnamveteran. Siegfried Brandt, sein Hund rätselte über seinen Verbleib.

Die drei anderen Grabstellen gehören Karin Bernitzki, Jürgen Koch und seiner Frau Birgit. Sie leben noch, aber sie haben sich ihr Grab am Baum schon gesichert. Sie kommen dereinst in einem Kreis von Menschen zur Ruhe, denen der Wald der bessere Friedhof ist, die sich zu Lebzeiten nicht kannten. Wer waren und sind die Menschen von Baum 148? Warum wollten sie in den Wald? Fast alle, die von der Eiche erzählen können, leben nahe Hannover. So beginnt an einem Samstagvormittag die Reise zum Baum 148.

Andrea Brandt bittet nahe Hannover auf die Terrasse ihres Hauses. Sie erinnert sich mit vorsichtiger Stimme, wie sie damals von einem Konzert nach Hause kam. Das Handy ihres Mannes Siegfried lag da, und sein Hund Cliff saß im Flur und schien zu grübeln. Mehrere Tage suchten sie nach Siegfried Brandt, ehe sein Auto gefunden wurde. Es stand auf einer Anhöhe an der Hildesheimer Börde, die Aussicht war gut. Er hatte sich mit Tabletten das Leben genommen. Andrea Brandt versucht, die Gründe für den Tod anzudeuten, ohne zu sehr ins Detail zu gehen. Sie spricht von körperlichen und psychischen Krankheiten, die vergangenen fünf Jahre waren so mühsam, sagt Andrea Brandt. „In der Zeit sind viele Menschen aus unserer Verwandtschaft gestorben“, sagt sie und zählt auf: ihr Mann, ihr Vater, ein Cousin, die beiden Großmütter, zwei Onkel, ein Patenkind, der Schwiegervater, eine entfernte Tante. „Jahrelang war nichts“, sagt Andrea Brandt, 49. „Dann kam es heftig.“ Der Tod hat ihre Sicht auf das Leben verändert. Sie blickt umher. Auf das Haus, in den Garten. Sie blickt auf ihre einzige Tochter Natalie, 18, die sich an den Tisch gesetzt hat, die vielleicht nach der Schulzeit wegzieht. „Es ist doch in der heutigen Zeit nicht klar, wo die Kinder hingehen? Wer pflegt dann die Gräber?“, sagt Andrea Brandt und überlegt. Vielleicht war die Entscheidung für den Bestattungswald schon eine frühe Reaktion auf den Wandel, der jetzt ihr Leben ergreift. „Ich weiß nicht, ob ich nun bleibe“, sagt sie. „Ich dachte, das hier sei mein Leben. Aber jetzt, wo das enge Umfeld auf einmal weg ist, ist alles offen.“

Am Nachmittag desselben Tages raucht Renate Wagenknecht, 59, in einem Reihenhaus in Hannover einen Zigarillo. Ihre Schwester Heike Wollborn, 49, schneidet Streuselkuchen. Beider Mutter, Irmgard Kohnert, starb mit 83, ganz friedlich. Nach dem Tod wogen die Töchter ab. Renate wollte kein Grab mit Blumen, weil Blumen betreut werden müssen: „Ich will wegen meiner Mutter zum Grab fahren und nicht wegen der Pflanzen.“ Heike wollte eine Geste, die ihrer Mutter, die gern bastelte, gerecht würde. Heike Wollborn holt ein Foto, das eine selbstgemachte Pappschachtel zeigt, bedruckt mit grünen Herzen. Die Schwestern stellten damals die Urne hinein und trugen sie an Seidenbändern zum Baum. An der Seite klebte ein Zitat von Albert Schweitzer: „Das einzig Wichtige im Leben sind die Spuren von Liebe, die wir hinterlassen, wenn wir weggehen.“

Die letzte Ruhe wird gerade anders. Bis vor neun Jahren gab es in Deutschland kaum Flächen, die der Naturbestattung gewidmet waren. Dann sahen Axel Baudach und Petra Bach, dass sich in der Schweiz Menschen im Wald bestatten lassen. Sie brachten die Idee nach Deutschland und durften nach zähen Verhandlungen den ersten mit einer Friedhofssatzung ausgerüsteten Bestattungswald eröffnen. Sie gründeten das Unternehmen „FriedWald“, öffneten bald weitere Wälder für Bestattungen, 34 sind es nun in Deutschland, sie erregten Aufmerksamkeit. Mittlerweile gibt es einen ähnlich großen Mitbewerber, den „RuheForst“, und noch Dutzende kleinere Anbieter von Bestattungswäldern. Viele Kommunen und Kirchengemeinden sehen die Entwicklung und bemühen sich nun selbst, kleine Waldgebiete für Bestattungen zu öffnen. Doch angeblich bremsen immer wieder Politiker und Kirchenvertreter die Bestrebungen. Manchmal steckt die Macht der Tradition dahinter. Manchmal hegen die Verantwortlichen die Angst, den Friedhöfen könnte die Kundschaft ausgehen. Als Försterin Meike-Christine Böger am späten Samstagnachmittag durch den Friedwald Uetze spaziert, belächelt sie diese Angst. Im Bestattungswesen hat sich viel getan, aber es hat sich nicht alles verändert. 2009 wurden in deutschen Friedwäldern 4270 Menschen begraben – in ganz Deutschland starben in der Zeit 842 000.

Böger geht weiter. Sie begleitet die Menschen beim Aussuchen der Bäume und bei der Bestattung. Der Wald, sagt sie, verändert das Abschiednehmen. Konventionen fallen. Sie hat schon Champagner und Bier an Bäumen getrunken. Manchmal sitzen Familien an den Gräbern ihrer Angehörigen. Zum Picknick.

Samstagabend öffnen sich Jürgen Koch und seine Frau Birgit in Uetze eine kleine Flasche Bier und erklären, warum sie sich zu Lebzeiten zwei Gräber unter der Eiche kauften. „Wir haben keine Kinder. Deshalb haben wir schon immer über eine Seebestattung nachgedacht. Uns war klar, dass wir etwas machen wollen, womit niemand Arbeit hat“, sagt Jürgen Koch, der bei der Gemeinde in Uetze arbeitet. Als vor zwei Jahren der Nachbar Ulrich Bernitzki unvermittelt stirbt und unter beinahe legendären Umständen begraben wird, fassen Kochs einen Entschluss. Sie gehen hinüber zu Karin Bernitzki und fragen, ob es in Ordnung sei, wenn sie sich neben ihrem Mann eine Grabstelle kauften? Sie nickt.

Am Tag darauf, es ist jetzt Sonntagmittag, setzt sich Felicitas Hübner in ihrem Wohnzimmer in Lehrte so in einen Sessel, dass man, wenn man ihr gegenüber sitzt, neben ihrem Kopf ein Foto sehen kann, das auf einer Kommode steht. Peter Hübner trägt darauf Schnauzbart und hält eine Zigarette in der Hand. Er sieht aus wie ein Sänger, der in Woodstock war. Mit seiner Mutter und seinem Bruder war er während des Krieges von Danzig nach Amerika ausgewandert, ist dort aufgewachsen und hat seine Studienjahre in New York verbracht. Er ging als junger Mann zur Armee, wurde Offiziersausbilder und verbrachte schließlich ein Jahr an der Front in Vietnam. Danach war alles anders. Er ging nicht mehr nach Amerika, sondern nach Deutschland, wo er Felicitas kennenlernte. Es begann eine Liebe, die nur in Verbindung mit einem schwierigen Alltag zu haben war. „Die Monstren aus der Vergangenheit – nicht nur Vietnam – haben 36 Jahre lang versucht, Peter den Lebensmut zu nehmen, unser gemeinsames Leben zu stören. Die ersten zwei Jahre hat er mit Licht geschlafen, um seine Träume irgendwie aufzufangen.“ Felicitas Hübner reißt Episoden an, spricht einmal von einem zusammenfallenden Bunker, Tränen drängen in ihre Augen, die Trümmer hätten seinen Rücken ruiniert. Trotz der Folgen des Einsatzes begannen die beiden ein volles Leben. Sie, die Hamburger Kaufmannstochter, und er, der Werbe- und PR-Fachmann. Sie werden erst ein Paar und dann ein Team. Sie gründen eine Konzertagentur. Sie führen in Hamburg ein Musiklokal, in dem Udo Lindenberg sein Bier trinkt. Sie gründen einen Verlag. „Wir haben das Stretching auf den deutschen Markt gebracht“, sagt Felicitas Hübner. Die Dinge laufen wirklich gut, bis durch den betrügerischen Konkurs des Auslieferers ihrer Bücher den Hübners viel Geld verlorengeht. Felicitas Hübner gründet den Verlag bald neu, muss aber die Arbeit jetzt weitgehend alleine schaffen. Peter Hübner erleidet einen Herzinfarkt, Operationen und weitere Erkrankungen folgen. Felicitas Hübner bekommt Brustkrebs, das Leben wird eine Reihung von Arztbesuchen. Vor zwei Jahren stirbt ihr Mann. Felicitas Hübner, 59, war seit der Beerdigung erst einmal im Friedwald. „Er liegt dort gut. Die Fuhse ist in der Nähe, dort hat er Wasser und Natur um sich – Elemente, in denen er sich immer wohl gefühlt hat.“ Sie sucht ein Taschentuch. „Wenn ich mit ihm reden will, tu ich’s sowieso.“

Es ist ganz bestimmt vermessen, an einer Eiche das Verhältnis der Deutschen zu ihrer letzten Ruhe festmachen zu wollen. Und doch glauben die Menschen von Baum 148, dass sich in ihrer Entscheidung für den Wald eine Entwicklung der Gesellschaft spiegelt. Immer wieder geht es in den Gesprächen um die vorsichtige Abwendung von der Kirche, die als letzte Ruhestätte vermeintlich nur die so sauber geordneten Gottesäcker zu bieten hat. Es geht, ganz praktisch, um die Pflege der Gräber in einer Zeit, in der Familien immer verstreuter leben. Ergeben Ruhestätten mit Blumen dann noch Sinn? Und noch etwas scheint jeder Entscheidung für den Wald zugrunde zu liegen: diese Sehnsucht nach Wurzeln.

Sonntagnachmittag blättert Karin Bernitzki durch die Bilder von der Beisetzung ihres Mannes: Die Söhne führen sein Pony Chico zur Eiche. Am Sattel ist der Hut befestigt, den Ulrich Bernitzki immer trug. Hinterdrein folgen gut 250 Menschen. „Mein Mann ist bis zum letzten Tag geritten“, sagt Karin Bernitzki. Im Ruhestand hatte der gelernte Tischler das Reiten gelernt und war so stur, es auch mit operierten Hüften nicht aufzugeben. Einmal sah er einen Film von Ronald Reagans Beerdigung und sagte, dass er dereinst auch so einen Abschied möchte. Mit Pferd, ohne Reiter. Als Bernitzki mit 61 an den Folgen einer Operation stirbt, kommt es genau so. Das Pferd. Der Hut. Und dann seine Frau. Sie hatte, als er noch lebte, für eine Gartenparty Kleider zur Ansicht heimgebracht, darunter ein rotes Cocktailkleid, das ihr nicht so sehr gefiel. Doch ihr Mann holte Nachbarinnen und fragte: „Ist das nicht ein schönes Kleid?“ Karin Bernitzki behielt es und trug es im Wald zum ersten Mal.

Als fast alle Geschichten von Baum Nummer 148 erzählt sind, meldet sich Meike-Christine Böger. Sie war nochmal im Friedwald und hat Angehörige von Rolf Böker erkannt, die erzählten, dass dessen Frau nach Dresden gezogen sei. (Sie war in den Wochen vorher nicht mehr zu erreichen gewesen.) Nun gibt es eine neue Telefonnummer, und bald geht Frieda Böker ans Telefon. „Nach dem Tod meines Mannes bin ich in ein Loch gefallen, und es hat mich hierher gezogen, wo meine Tochter und meine Enkel leben“, sagt die 67-Jährige. Sie erinnert sich an das Leben zu zweit, ans Kennenlernen im Volkswagenwerk, an die Heirat: Frieda Bökers Eltern drohten, dass sie nicht zur Hochzeit kommen würden, wenn es keine kirchliche Trauung gäbe. Rolf Böker, kein Freund der Pfarrer, ging einen Kompromiss ein: Er ließ sich konfirmieren und schwor dennoch, nach der Taufe der Kinder wieder aus der Kirche auszutreten. „Er hat es tatsächlich gemacht“, sagt Frieda Böker. „Er ist so erzogen worden. Für seinen Vater war die Natur der eigentliche Gott.“ Im Januar 2008 verstopft eine Vene, es hat mit dem Altersdiabetes zu tun, Rolf Böker fällt in ein Koma, aus dem er nicht mehr erwacht. Nun liegt er im Wald. Aber auch dort ist ja nur das Grab. Für seinen Enkel in Dresden, sagt Frieda Böker, sei er sowieso oben, droben, auf einer Wolke.


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