Als Kind hatte die Illustratorin Birgit Schössow Neurodermitis. „Ich erlebte in der Zeit immer wieder, was es heißt, ausgegrenzt zu werden. Meine Haut sah in der Regel nicht besonders gut aus.“ Viele Jahre später liegt sie eines sonntagmorgens mit ihrem Partner im Bett. Er liest ihr aus „Schischyphusch oder Der Kellner meines Onkels“ vor, einer kleinen Geschichte von Wolfgang Borchert:

In einem Ausflugslokal begegnen sich ein lispelnder Kellner und ein lispelnder Onkel. Der Onkel denkt, der Kellner würde sein Lispeln imitieren. Bald beklagen beide ganz bitterlich die Wüstheit des je anderen: Was er sich einbilde, dass er sich über seinen Sprachfehler lustig mache! Dann aber belegt der eine dem anderen, dass von Nachahmung keine Rede sein könne. Der Kellner hat seinen Sprachfehler seit Geburt, der Onkel schuldet ihn einer Kriegsverletzung. So legt sich die Aufregung und der Kellner klagt dem Onkel in einem Anfall von Erleichterung, wie er Zeit seiner Kindheit wegen dieses Sprachfehlers gehänselt wurde. Und da passiert dieser Moment, der die Geschichte berührend macht. Der Onkel legt seine Hand auf die Hand des Kellners und sagt, sehr lispelnd: „Armesch kleinesch Luder! Schind schie schon scheit deiner Geburt hinter dir her und hetschen?“ Und plötzlich löst sich etwas im Kellner. Wolfgang Borchert schreibt: „Aber sein Herz empfing diese Welle des Mitgefühls wie eine Wüste, die tausend Jahre auf einen Ozean gewartet hatte. Bis an sein Lebensende hätte er sich so überschwemmen lassen können! Bis an seinen Tod hätte er seine kleinen Hände in den Pranken meines Onkels verstecken mögen! Bis in die Ewigkeit hätte er das hören können, dieses: Armesch kleinesch Luder!“

Es war also ein Sonntagmorgen, als Birgit Schössows Partner ihr den Schischyphusch und eben diese Szene vorlas. „Ich fing an zu heulen“, erinnert sich Schössow. Dieser Moment des Handauflegens hat Wucht, er ist ein so trauriger wie erhebender Wendepunkt der Geschichte. Der Onkel erkennt den Kellner als das, was er ist, ein gehetzter, gedrängter Mensch. Überhaupt: Er erkennt ihn. „Und darum geht es“, sagt Birgit Schössow. „Ums Erkanntwerden. Wir wollen erkannt werden. Das ist es, was wir uns alle wünschen, in unseren Leben, in unseren Freundschaften, in unseren Partnerschaften: dass der andere einen selbst als das erkennt, was man ist. Ohne alles Gedöns drumrum.“ Vielleicht löst der Schischyphusch bei so vielen Menschen Rührung aus, weil fast alle in der einen oder anderen Form dieses Gefühl von Ausgeschlossensein oder Ungenügen kennen. „Jeder hat etwas, mit dem er von anderen ausgeschlossen werden kann“, sagt Birgit Schössow. „Beim einen ist es die Neurodermitis und beim anderen ist es ein Lispeln.“

Seit Jahren frage ich Menschen nach ihren Lebenslehren. In Die Lehren der Anderen versammle ich immer wieder die Antworten.

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