Das Internet ist ein Ideengenerator und will uns mit Links froh machen oder: Die kleine Geschichte über die Suche nach einem Cannabiskritiker.

Gestern habe ich auf Youtube ein Video gesehen. Zwei Hunde sitzen im Restaurant an einem Tisch. Sie tragen einen Pullover und essen mit Messer und Gabel aus einem Teller mit Kartoffel- und Fleischstücken. Das sieht drollig aus, weil hinter den Hunden und unter den Pullovern Menschen sitzen, die ihre Arme durch die Ärmel gesteckt haben. Vorne schauen die Hände raus, die das Besteck halten und die Hunde manierlich füttern. „Two Dogs Dining“ heißt das Video und es ist lustig. Nach zwei Minuten ist es nur noch mittellustig und nach sechs Minuten (das Video ist lang), ist es schon öde und man hat außerdem Angst, dass die Gabelhände aus Versehen in die Hundeschnauzen stechen. Aber hey: Nette Idee. Danke, Internet. Was gibt’s noch?

Ein Freund schickte mir vergangenen Oktober den Link zu einer amerikanischen Zeitung, die einen Autor dafür bezahlt, dass er Marihuana testet. Der Mann kauft ein, stopft die Bong, zieht einen durch und verfasst dann am Computer Kritiken. In Amerika geht so was. Seit 15 Jahren darf man in Kalifornien unter bestimmten Bedingungen Gras rauchen. Der Bundesstaat war der erste in Amerika, der „Medical Marijuana“ erlaubte. Bei Erkrankungen wie Epilepsie oder sogar bei Krebs können die Ärzte zur Linderung Gras verschreiben. Das Rezept legt man in einer Dispensary vor, einer Art Marihuana-Apotheke, und kann dann grammweise einkaufen. Mittlerweile gibt es diese Regelung auch in anderen US-Staaten, unter anderem in Colorado. Und dort schreibt der Kiffkritiker mit dem Pseudonym William Breathes.   William arbeitet für die alternative Wochenzeitung „Westword“ in Denver. Jede Woche testet er eine andere Dispensary und schreibt die Erlebnisse in seine Kolumne „Mile Highs and Lows“. (Der Titel beschreibt nicht nur Bewusstseinszustände. Denver liegt auf 1609 Metern Höhe am Rande der Rocky Mountains, also genau eine Meile über dem Meeresspiegel.)

Mitte Mai war William zum Beispiel bei Green Meadows Wellness, einer Dispensary in Lakewood. Dort muss es so mittelgut gewesen sein. Steve, der Besitzer, hat einen Hund namens Otis, der bei einem früheren Besitzer misshandelt worden ist und nun alle Freiheit genießt. Otis macht sich auf der runtergekommenen Couch im Eingangsbereich breit, die eigentlich der Kundschaft vorbehalten ist, schreibt William. Die Grasauswahl in Steves Laden ist entgegen der Ankündigung auf der Website mau. Aber Williams Text zufolge scheint die Qualität des Vorhandenen immerhin okay zu sein. Ein User kommentiert, dass das Zeug aus Lakewood den Nachgeschmack von Düngemittel habe. Dann meldet sich der Ladenbesitzer und schreibt, dass es noch nie Beschwerden gegeben habe. Und ob der Autor, also William, schon mal was von der Wirtschaftskrise gehört habe, die es ihm nicht erlaube, den Kunden die neueste Couch hinzustellen? Vielleicht, setzt Steve nach, könne er sich die Couch auch wegen der hohen Anzeigenpreise bei „Westword“ nicht leisten.

Tatsächlich gibt es in „Westword“ immer mehr Anzeigen von Dispensaries. Cannabis als Arzneimittel ist in Colorado eigentlich schon seit elf Jahren erlaubt, trotzdem gab es bis 2009 im Raum Denver nur gut 70 Dispensaries. Ein Grund war die Strafbarkeit. Eine Dispensary, die sich an das Recht in Colorado hielt, musste dennoch mit Razzien durch Bundesbeamte rechnen. Erst unter Barack Obama gab es die Ansage, dass Washington die Dispensaries künftig in Frieden lassen wolle. Seitdem geht es rund. In Denver sind innerhalb von zwei Jahren gut 200 neue Ausgabestellen entstanden. Immer mehr Menschen beantragen die „Medical Marijuana Card“, den ärztlichen Nachweis, den unter anderen William Breathes vorlegen muss, damit er, aus gesundheitlichen Gründen, Gras kaufen darf. In Colorado hielten im Mai fast 130.000 Menschen die Karte in der Hand. Das sind 2,6 Prozent der Bevölkerung. So gesehen ist die Entscheidung, dem neu entstandenen Gewerbe einen Journalisten beizustellen, nachvollziehbar. Die Stellenausschreibung in „Westword“ stieß auf viel Zuspruch, auch wenn die Redaktion warnte: „After all, we can’t have our reviewer be stoned all the time.“ Mehr als 250 Menschen bewarben sich. Noch als der Job längst vergeben war, kam Post. Kiffer, heißt es bei „Westword“, seien nicht immer die schnellsten.

William Breathes ist 31, stammt aus Denver und arbeitet seit seinem Studium als Journalist. Er kifft seit 17 Jahren. Vor allem, so hat er es einmal einer CNN-Journalistin gesagt, wegen seiner chronischen Magenbeschwerden. Neulich hat er geheiratet. Zumindest beschreibt er in seinem Blog seine Flitterwochen in Jamaica, während der er ausgiebig die gräsernen Früchte des Landes testet. Als er aber via Miami wieder in sein Heimatland reist, erwartet ihn am Flughafen ein Drogenhund. Er hat vor seiner Abreise aus Jamaica zwar alle verdächtigen Brösel aus der Kleidung geklopft, ist aber trotzdem aufgeregt. Auch wenn Amerika leidlich liberal scheint – es ist immer noch ein Unterschied, ob man das Gras dort unter Auflagen kauft oder mit ins Land bringt. William wird, nach ausführlicher Kontrolle, von sehr misstrauischen Beamten durch die Grenzkontrollen gewunken. Er trägt nichts bei sich, aber er stellt fest, dass all das Waschen nix hilft: „Ich rieche eigentlich immer nach Gras.“

Anfang November 2010 schreibe ich William zum ersten Mal wegen eines Gesprächs an. Er antwortet, dass er sehr gerne mit mir reden wolle, im Fuß seiner Mail steht Bob Marleys Spruch: „Herb ist the healing of a nation.“ Nach zähem Hin und Her verabreden wir uns zu einem Telefonat. Er will sich melden, doch die vereinbarte Zeit verstreicht. Telefonnummer habe ich keine, der Kiffkritiker will unerkannt bleiben. In mehreren Videos in seinem Blog trägt er eine Baseballmütze, eine Sonnenbrille und ein Kopftuch vor dem Gesicht. Es folgt eine Mail: „Sorry, hab verschlafen.“ Dann meldet er sich nicht mehr. Ende Januar 2011 schreibe ich ihm wieder. Ich habe mich festgebissen. Ich will die Geschichte hinter dem Link verstehen, der mich zu „Mile Highs and Lows“ führte. Es war einer dieser vielen unterhaltsamen oder erstaunlichen Links, die einem auf Facebook oder in den Mails von Freunden ins Gesicht fliegen. Immer steckt eine kleine Überraschung dahinter, eine Verblüffung, die Links bergen Hinweise auf das Leben der Anderen und ein anderes mögliches Leben, sie bergen im besten Fall das, was man vielleicht „Inspiration“ nennt, also Anlass zum Weiterdenken. Manchmal sind sie auch nur die idealen Geschichten zum Weitererzählen beim Bier. Und manchmal steckt sogar ein bisschen Weisheit in ihnen.   William antwortet. Er entschuldigt sich und schreibt, dass er mir ein „Bier oder einen Spliff“ schulde, dafür, dass sich die Sache so hinziehe. Er wolle immer noch unbedingt mit mir reden. Wir vereinbaren einen Termin im Februar, der wieder verstreicht. Es wird still.

Im März schicke ich ihm einen Fragebogen. Im Mai schreibe ich ihm, dass ich im Juni in Denver wäre. Ob man sich treffen könne? Und er solle bitte nicht denken, dass ich ein Stalker sei! Er meldet sich nicht mehr.

Es gibt zum Beispiel diese Webseite, auf der Leute ihre Kinderfotos nachstellen. Es gibt Leute, die auf der Basis von Facebook-Profilfotos Aquarelle zeichnen. Es gibt Leute, denen man seinen Bleistift zusenden kann, der dann von einem Profi gespitzt und mit Zertifikat zurückgeschickt wird. Das irgendwie Denkbare bekommt im Internet sein Gesicht und seinen Link. Nichts muss unverwirklicht bleiben, jede Idee kann immerhin und mindestens eine Fassade bekommen. Es muss nicht immer was dahinter sein. Der Mann, der die Bleistifte spitzte, hat seine Kunst zum Beispiel schon wieder an den Nagel gehängt. Es gab Interviews mit ihm, er veranstaltete in New York ein Schauspitzen und die Website zu seinem Spitz-Unternehmen sah wirklich toll aus. Aber dann war es auch gut. Es war eine nette Idee und das war es, was zählte.

Im Juni, am Ende eines sehr heißen Tages, an dem Dirk Nowitzki zum zweiten Mal gegen die Miami Heat verloren hat, sitze ich in der Fußgängerzone von Boulder, Colorado, und schaue. Ein Mann geht auf und ab, er trägt ein Schild. „Dream“ steht auf der einen Seite. Er geht auf die Menschen zu, sagt nichts, zeigt ihnen das Schild. Dann dreht er das Schild und da steht: „Be happy“. Die Menschen lachen ihn verstört an aber wundern sich nicht. Boulder war mal so etwas wie eine Hippiestadt. In Boulder heirateten 1975 die ersten gleichgeschlechtlichen Paare Amerikas. Die Kirchenchefs und die Bürger waren zornig über den vermeintlichen Verfall der Sitten. Die verantwortliche Verwaltungsbeamtin erinnert sich heute, dass damals ein empörter Mann mit seiner Pferdestute vor der Tür stand. Er wollte, wohl aus Protest, mit seinem Pferd verheiratet werden. Die Beamtin verweigerte das Ansinnen, weil das Pferd acht Jahre alt sei. Zu jung für eine Heirat.

„Dream“. Der Mann geht auf mich zu. Vielleicht, denke ich, sollte ich einen Internetdienst einrichten. Auf dieeinfachstenbotschaftenderwelt.de könnte man einen Feed abonnieren, der einem zehn Mal am Tag eine einfache aber gute Botschaft auf den Computerbildschirm jagt. Vielleicht würde ich wegen meiner Webseite von der Zeitschrift „petra“ und der Westfälischen Zeitung interviewt. Ich würde sagen, dass die Menschen häufiger an die einfachen Sachen erinnert werden müssten und dass mir das der Schildermann von Boulder in Erinnerung gerufen habe. Vielleicht würde der Link zu der Seite noch ein paar Mal getwittert und das wärs dann gewesen. Es wäre eine Idee aus der Fußgängerzone von Boulder gewesen, die bei ein paar Menschen ein paar Minuten ein Feuerchen entzündet hätte.

Am nächsten Morgen, ein Montag, fahre ich von Boulder die 25 Meilen nach Denver und frage die Empfangsdame im backsteinernen Redaktionsgebäude von „Westword“ (969 Broadway) nach William Breathes. Sie nickt und telefoniert und bittet mich, neben einem Ständer mit alten „Westword“-Ausgaben Platz zu nehmen. Die Chefredakteurin kommt die Treppe herunter. Ich hatte ihr in der Woche vorher noch eine Mail geschrieben und nach Breathes gefragt. Sie habe William auf die Mailbox gesprochen, sagt sie nun, er sei nicht zu erreichen. Sie hebt entschuldigend ihre Hände. „Sobald er sich bei mir meldet, sage ich ihm, dass er Sie anruft.“ Dann geht sie wieder die Treppe hoch. Ich sehe ihr nach und gehe vor die Tür. Was bleibt mir?

Auf dem Gehsteig von Denver geht es auf Mittag zu, es wird schon wieder sehr juniheiß. Nebenan ragen die Hochhäuser der Innenstadt in den Himmel, dahinter machen die Rocky Mountains dasselbe. So sieht sie also aus, die Quelle des Links, dieser kleinen Idee, die ich vergangenen Oktober geöffnet hatte. Was habe ich gefunden? Nicht viel, eigentlich. Nur einen Mann mit einem Schild und drei Worten.

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