Eine Münchner Studentengruppe will Strom nach Sierra Leone bringen – und lernt dabei, dass Entwicklungshilfe gar nicht so einfach ist. (Erschienen in der Süddeutschen Zeitung und auf jetzt.de)

Im Seminarraum N1039 an der Technischen Universität München ist es abends um 19 Uhr noch heiß, aber das passt. Zwei Dutzend Ingenieure und Studenten streiten gleich darüber, wie man gemeinsam mit der Sonne einer Berufsschule in Sierra Leone zu Strom verhelfen kann. Von außen drückt die Resthitze des 1. Juli 2009 ins Zimmer, vor der grünen Tafel blättern vier junge Männer in Papieren. Sie haben die Regionalgruppe der „Ingenieure ohne Grenzen“ gegründet. Einer der Männer ist David Franke, 31, Doktorand. Er blickt hoch und schaut in bärtige Studentengesichter, er sieht eine Portugiesin, einen erfahrener Ingenieur im T-Shirt, hinten sitzt zum ersten Mal die Frau mit den vielen Talenten, zu jedem monatlichen Treffen kommen neue Besucher, alle wollen sie helfen. Aber David sagt gleich, dass es erstmal nichts zu helfen gibt. Zwei Ingenieure haben sich beim geplanten Hilfsprojekt in Sierra Leone umgesehen und nichts gefunden. „Es gibt dort nur ein elektrisches Gerät“, sagt David. „Eine alte Nähmaschine.“

Vor acht Jahren gründeten engagierte Menschen in Deutschland die „Ingenieure ohne Grenzen“, seit vier Jahren gibt es die Regionalgruppe München. Die Sache in Sierra Leone sollte das erste große Projekt der Münchner werden und es hatte gut angefangen. Ein paar Lehrer aus Berlin schicken nämlich regelmäßig handbetriebene Nähmaschinen zu einer Berufsschule in der Stadt Kamakwie in Sierra Leone, wo 200 Schüler unter anderem zu Schneidern ausgebildet werden. Ist ein Schneider mit seiner Ausbildung fertig, bekommt er eine Nähmaschine und kann sich selbstständig machen. Irgendwann fragten die Berliner bei den Münchnern, ob sie der Schule vielleicht Strom besorgen könnten? David und die anderen Ingenieure schrieben E-Mails nach Kamakwie und der Schulleiter Maurice schrieb mit Verspätung zurück. Die Deutschen versuchten zu ermitteln, wieviel Strom die Afrikaner brauchen. Die Angaben waren seltsam. Maurice schrieb von vorhandenen Bandsägemaschinen, Schweißgeräten und Kreissägen. Er bestellte eine Solaranlage, die 30 Kilowattstunden Strom erzeugen kann. Die Münchner staunten, weil man damit gut 650 Kühlschränke betreiben kann. Sie handelten einen Kompromiss aus und kamen auf 15 Kilowattstunden. Der Solarzellenhersteller Solarworld versprach bald eine Spende, er sicherte Solarzellen und Wechselrichter im Wert von 80 000 Euro zu, die Dinge wurden richtig gut, die Freude in München war groß. In Helferlaune reisten zwei Ingenieure zur Vorerkundung nach Afrika. Sie fanden die Nähmaschine. Die Hobel und Sägen waren der Phantasie des Schulleiters entsprungen. Am 1. Juli 2009 steht das Projekt auf der Kippe. Es kann sogar sein, dass die zähe Suche nach einem neuen Projekt, in dem man helfen kann, von vorne beginnt.

„Die Abschlüsse an der Berufsschule werden staatlich anerkannt, wenn es Computerarbeitsplätze gibt“, sagt David. „Was wäre, wenn wir Computer schicken würden? Die brauchen schließlich Strom.“ Er schaut in den Raum. Die Frau mit den vielen Talenten meldet sich. Sie hat viel Zeit in der Entwicklungshilfe verbracht und sagt: „Wir könnten den Prototyp eines Standfahrrades bauen. Einer tritt, die anderen können lesen.“ Ein Student errechnet die möglichen Wattzahlen und findet heraus, dass 15 Schüler treten müssten um fünf Computer zu betreiben. Einer schüttelt den Kopf: „Ich find’s unzumutbar, für den Betrieb eines Laptops zu treten.“ Der erfahrene Ingenieur im T-Shirt steht auf und sagt: „Ich war auf einer Tagung, wo die Projekte von anderen Regionalgruppen der Ingenieure ohne Grenzen vorgestellt wurden. Da haben zwei Mädchen in Panama Zisternen gebaut. Solarzellen können wir nur anliefern und Jahre später als Schrott wieder abholen.“ Einer nickt: „Wir sind Ingenieure ohne Grenzen. Sollten wir nicht auch eine Ingenieurleistung erbringen?“ Ein Student reagiert ungehalten: „Habt ihr wirklich ein Problem damit, dass Stromkästchenliefern keine Ingenieursleistung ist?“

Auf staatlicher Ebene tüfteln die Menschen seit mehr als einem halben Jahrhundert an der Frage, wie die Reichen der Welt den Armen helfen können. Nach dem Ende der Kolonialzeit vergaben die Industrienationen Kredite in die einst besetzten Länder, um nach dem Vorbild des Marshallplans so etwas wie eine wirtschaftliche Entwicklung anzustoßen. In jener Zeit begann die Ära der Entwicklungshilfe. (Heute ist meist von Entwicklungszusammenarbeit die Rede.) Seit Beginn dieser Ära ist zum Beispiel Afrika nicht mehr aus unseren Nachrichten verschwunden. Seitdem gibt es tausend Ideen, wie man dem Kontinent helfen kann. Manchmal machen aber korrupte Regierungen eine langfristige Hilfe unmöglich, manchmal blockiert die Hilfe selbst eine Entwicklung. Die Entwicklungszusammenarbeit ist ein Labor geblieben, in dem sich mittlerweile immer mehr Abiturienten und Studenten umschauen. Sie wollen sehen, wo es in der Welt mangelt und bewerben sich deshalb zum Beispiel bei „weltwärts“, dem Freiwilligendienst der Bundesregierung, oder machen bei Zusammenschlüssen wie den „Ingenieuren ohne Grenzen“ mit. Sie wollen sehen, ob man dort draußen nicht helfen kann.
Kann man doch, oder?

In Raum N1039 gehen die Stimmen durcheinander. Der erfahrene Ingenieur sagt: „Wir könnten eine Kleinstsolaranlage entwickeln, die dort unten zusammengebaut wird.“ Die portugiesische Studentin sagt: „Es ist besser, wir entwickeln erstmal einen Leitfaden für unsere Arbeit.“ Ein Student mit Vollbart sagt: „Solange jeder was anderes vorschlägt, bringt das nichts.“ Die talentierte Frau sagt: „Wir müssen die Locals trainieren.“ Der erfahrene Ingenieur sagt: „Entwicklungshilfe bedeutet doch Ausbildung.“ Die talentierte Frau: „Haben wir eine Know-How-Datenbank, in der steht, wer was kann?“ Ein Junge mit lila Kappe: „Gehört auch Kochen mit zum Know-How?“ Die talentierte Frau erklärt jetzt ihre Talente: „Ich kann Drehen, Fräsen, ich bin Rhetoriktrainerin . . .“ Einer der Gründer vor der Tafel: „Es kann doch jeder nach seiner Fähigkeit eine Untergruppe gründen, in der man zum Beispiel selbständig an einer Zisterne für ein anderes Projekt baut, oder?“ Ein anderer Gründer: „Von ganz oben ist immer nur ein Projekt in einer Regionalgruppe vorgesehen.“ Ein Mann mit Bart: „Wollen wir wirklich für eine kleine Anlage nach Kamakwie fahren? Das ist doch lächerlich.“ Die Portugiesin: „Könnten wir nicht auch nach Tansania gehen?“

Die Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) kennt sich mit Entwicklungshilfe aus. Hinter dem Kürzel sind Anfang dieses Jahres die Entwicklungsdienste DED und GTZ sowie die Bildungsorganisation InWent aufgegangen. Wenn ein armes Land bei der Bundesregierung um Unterstützung anklopft, kümmert sich häufig jemand von der GIZ. Ulrich Sabel-Koschella ist dort einer der wichtigsten Koordinatoren. Er war viele Jahre in Afrika, und einmal war er auch in Sierra Leone unterwegs. Er führte Interviews mit den Bauern, um ihre Schwierigkeiten herauszufinden. „Am Anfang hat jeder gesagt, dass mit einer neuen Hacke alle Probleme gelöst wären“, erinnert sich Sabel-Koschella. „Da sind wir stutzig geworden und haben geforscht. Ein Jahr zuvor gab es ein Projekt der Welternährungsorganisation, in dem kostenlos Hacken verteilt wurden. Da nun wieder Fremde kamen, dachten die Bauern, dass es wieder Hacken gebe.“ Die Szene beschreibt, dass man für’s Helfen viel fragen muss. Man muss dauernd die Perspektiven wechseln. Vielleicht wenden sich deshalb so viele Menschen, die mit einer privaten Initiative helfen wollen an die GIZ-Mitarbeiter im jeweiligen Land. Für die GIZ arbeiten nun gut 20 000 Menschen, die Organisation kann also im Vergleich zu kleinen Hilfsinitiativen viele Perspektiven einnehmen. „Manchmal haben kleine Organisationen einzelne Kontaktpersonen. Wenn das der Fall ist, wird häufig ein Projekt um diese Kontaktperson herum gebaut“, sagt Sabel-Koschella und tastet sich an eine Schwierigkeit der privaten Helfer heran. „Das kann gut gehen, das kann aber auch mit einem großem Risiko behaftet sein, wenn man im Projekt nicht die Interessen einer größeren Gruppe sondern die Interessen dieser Person abbildet.“

In München klappen die Ingenieure am 1. Juli 2009 nach zwei Stunden Diskussion ihre Blöcke zu, in die sie nur das Datum des nächsten Treffens geschrieben haben. Der Abend hinterlässt Fragen. Sind sie das Ganze richtig angegangen? Wer ist eigentlich Maurice? Und sollen Ingenieure eigentlich nur helfen, wenn sie auch anpacken können? David Franke ist selbst Bauingenieur und gibt zu, dass Helfen durchaus mit Selbstverwirklichung zu tun haben kann. „Das ganze Wissen, das ich während meines Studiums gewonnen habe – da ist soviel Potential, womit ich helfen kann“, sagt er. „In Deutschland habe ich meine DIN-Standards. Da steht genau drin, was ich berücksichtigen muss, welche Materialien ich verwende, welche Kenngröße die Materialien haben. In der Entwicklungshilfe kann ich dagegen nichts als gegeben hinnehmen.“

David ist mit seiner Motivation keine Ausnahme. Spätestens seit das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung vor drei Jahren „weltwärts“ startete, ist das Helfen populär. In fast jedem Abiturjahrgang gibt es Schüler, die nach dem Abschluss für einige Zeit nach Südamerika, Afrika oder Asien gehen und dort in einem Projekt anpacken. Viele wollen sich bei solch einem Aufenthalt nützlich machen, viele sind aber auch berechnend, weil sie wissen, dass vor allem sie selbst von dem Aufenthalt profitieren, der im Normalfall eine persönliche Reifung mit sich bringt (siehe auch dieses Interview). Ein Autor des Magazins New Yorker ging kürzlich noch weiter und schrieb über moderne Entwicklungshelfer als Menschen, die in den Krisengebieten dieser Welt nach so etwas wie „Ehre“ suchten. Vielleicht gilt das auch für die Ingenieure ohne Grenzen. Vielleicht haben sie aber auch nur Sehnsucht nach einer im besten Sinne sinnvollen Aufgabe. Nur: Ergibt sich aus einer solchen Sehnsucht automatisch die Anleitung zur richtigen Hilfe?

Spricht man mit Entwicklungshilfeprofis, bitten viele um Anonymität, weil sie nicht als Besserwisser dastehen wollen. „Es ist sehr schwierig, jemanden, der helfen will und jemanden, der bedürftig ist so zusammenzubringen, dass es dem einen besser geht und der andere das Gefühl hat, er hätte geholfen“, sagt ein Mann, der lange in Afrika und Asien war. Er erinnert sich an einen Stamm der Massai. „Ein Massai genießt einen hohen Status, wenn er viele Rinder besitzt. Er würde sie selbst bei einer nahen Dürre nicht verkaufen. Er will sein Gesicht wahren, auch wenn das aus unserer Sicht Unsinn ist.“ Schon die Annahme über Hilfsbedürftigkeit kann also Unfug sein. Manchmal kann Hilfe aber auch falsche Erwartungen erzeugen. Die zwei Münchner Ingenieure in Kamakwie entdeckten während ihrer Reise defekte Dieselgeneratoren, die man leicht hätte reparieren können. Sie entdeckten Solaranlagen, die wegen eines fehlenden Teils nicht aufgebaut wurden. Die Menschen aus Kamakwie kümmerte das aber nicht. Ihre Erfahrung sagte ihnen, dass die nächste Lieferung kommen würde.

Die Profihelfer schwanken zwischen Kritik und Lob, wenn sie über privat organisierte Hilfe reden. Sie sagen, dass ein Projekt, ob es funktioniere oder nicht, immer eine Art entwicklungspolitische Fortbildung sei. Gleichzeitig kritisieren sie, dass manches Hilfsprojekt seinen Zenit schon nach dem Startschuss überschritten habe. Zu oft werde die weitere Betreuung des Projekts versäumt und dann sei all die Anschubmühe umsonst.

Der November 2010, eineinhalb Jahre sind nach dem Treffen in Raum N1039 vergangen. Die Ingenieure ohne Grenzen haben viel weiterdiskutiert, sie haben andere Projekte besprochen und begonnen, sie haben hinzugelernt. David Franke, der damals das Treffen moderiert hat und nun die Regionalgruppe leitet, sagt in einem Café in München: „Die Sachen sind verpackt, die Verschiffung nach Sierra Leone ist geregelt.“ Die Berufsschule in Kamakwie soll eine Solaranlage samt Batterien bekommen, die auch in der Nacht die Stromversorgung garantiert. Sie ist auf ein Kilowatt ausgelegt.

David erinnert sich an die Diskussion vom 1. Juli 2009, an die Debatte über das Projekt und das richtige Helfen. Er sagt, dass die Gruppe seitdem gereift sei. David selbst war bei Seminaren und sieht die krumme Kommunikation zwischen Maurice und München jetzt anders. Hilfesuchende, das weiß er heute, stellen häufig überzogene Forderungen, weil sie wüssten, dass sie stets nur einen Bruchteil der Hilfe bekommen. „Es ist der falsche Weg, einfach zu springen, wenn jemand ruft“, sagt David. „Man soll den Eigenantrieb der Leute nicht zerstören.“ Er und die anderen Ingenieure haben lange darüber nachgedacht, wie man damit umgeht, dass die Batterien der Solaranlage nach fünf Jahren getauscht werden müssten. „Die Schule soll die 2000 Euro für den Kauf einer neuen Batterie selbst erwirtschaften“, sagt David jetzt. Er ist stolz auf die Nachhaltigkeitsrechnung, die er mit seinen Kollegen aufgestellt hat. Sie geht so: Die Schule, so die Annahme, wird mit den fünf Computern und dem Strom mehr Schüler anziehen und mehr Schulgebühren einnehmen. Gleichzeitig soll der Computerraum nach dem Unterricht als Internetcafé dienen. Gleichzeitig soll man seine Handybatterie an den Steckdosen der Solaranlage aufladen können. „Wir haben Abschätzungen vom Schulleiter, was man damit einnehmen kann“, sagt David. Dann fügt er schnell an: „Aber die muss man sehr kritisch hinterfragen.“

Im Februar 2011 reisen drei Ingenieure nach Kamakwie und bauen die Anlage auf. Die Ingenieure sind selig und verschicken eine Mail mit dem Titel „Münchener Ingenieure ohne Grenzen sorgen für Strom und Internet in Sierra Leone“. Ende März sagt Helena Schmidt, die sich mittlerweile um die Öffentlichkeitsarbeit der Gruppe kümmert, nur zwei Worte in ihr Handy: „Alles funktioniert.“ Dann lacht sie so fröhlich, als sei Helfen ganz einfach.