Wie man im Schlaf fliegt, Sex mit Leonardo di Caprio hat oder eine bessere Welt erschafft. Und zwar so, wie man es will. Im Klartraum. (Erschienen in der Süddeutschen Zeitung, SZ am Wochenende, 21. August 2011.)

„Der Anfang war schwierig“, sagt Melanie Schädlich auf einem Drehstuhl im Keller des Sportwissenschaftlichen Instituts der Universität Heidelberg. Sie drückt ihren Rücken durch, schaut zur Decke und erzählt von ihren ersten nächtlichen Flugversuchen. Sie beugte sich nach vorne und versuchte, in eine Art Schwebe zu kommen. Doch dann sackte ihr Körper ab. In den nächsten Nächten übte sie weiter, bis es klappte. Nach vorne neigen. Schweben. Fliegen. Melanie schaut zum Fenster, durch das noch ein bisschen Licht ins Schlaflabor dringt. Sie wartet auf ihre Versuchsperson und auf einen Kollegen. Sie ist 25 Jahre alt und studiert Psychologie, gleich beginnt der Versuch für ihre Diplomarbeit. Melanie schaut zur Decke und versucht sich an einer Beschreibung, sie sucht nach Worten für das Fliegen im Traum. „Es ist ein unbeschreibliches Glücksgefühl“, sagt sie und lächelt. Neulich flog sie nachts in der Abenddämmerung über die Alpen. Sie machte Salti. Drehte sich. Sie strahlt, wenn sie sich erinnert: „Klarträumen ist, als erkunde man seine eigene Matrix.“

Es ist ein seltsames Gefühl, Menschen gegenüberzusitzen, die die Kunst des Klarträumens beherrschen. Man muss achtgeben, nicht die ganze Zeit ungläubig den Kopf zu schütteln. Wer es einmal geschafft hat, sich während eines Traumes über die Tatsache, dass er träumt, bewusst zu werden, erlebt seine Träume mitunter so ähnlich wie den Wachzustand. Im Moment des „Klarwerdens“ verschwindet angeblich der Schleier, wie er über herkömmlichen Träumen liegt. Der Träumer nimmt die Szenerie bewusst wahr und kann oft sogar in das Geschehen eingreifen. Als Melanie vor sechs Jahren ihren ersten Klartraum hat, lässt sie zum Beispiel den amerikanischen Schauspieler Johnny Depp auftauchen. Sie dreht sich im Traum schnell zur Seite und imaginiert dort eine Tür, durch die Johnny Depp in ihren Traum tritt. Es geschieht, weil sie es sich wünscht. Dann plaudern die beiden. Alles ist im Klartraum denkbar, sei es ein Abendessen mit Carla Bruni oder Sex mit Leonardo DiCaprio, der zurzeit im Film „Inception“ selbst in anderer Leute Träume einsteigt.   Ein Klarträumer berichtet, wie er durch eine Scheibe ging und dabei die Struktur des Glases am Körper spürte. Der inzwischen verstorbene deutsche Klartraumpionier Paul Tholey, ein Psychologieprofessor, beschrieb Anfang der Achtziger in einem Artikel den Versuch eines Mannes, sich im Klartraum Gliedmaßen abzuschneiden. „Zunächst fühlt er Schmerzen, als die Schneide des Messers seinen Körper berührte; er sagte sich aber dann, dass dies ja durch sein Wissen von Schmerzerfahrungen im Wachzustand bedingt sei. Danach wurden seine Körperteile weniger fest und schmerzunempfindlich, sodass er große Stücke seines Körpers abschneiden konnte.“

In einem Internetforum beschreibt ein Nutzer die „unendlich befreiende, friedvolle, durch und durch positive Stimmung“, die im Moment der Klarheit aufkomme. Für viele ist der Klartraum so etwas wie ein hauseigener Vergnügungspark. Fliegen und Sex spielen dort eine recht große Rolle. Viele Träumer freuen sich schon bei Tag auf die Nacht, auf die kleine Flucht in den eigenen Kopf, wo es keine Verpflichtungen gibt. Es gibt aber auch Träumer, die sich im Klartraum ganz ernsten Aufgaben stellen. Sie wollen mehr über sich selbst erfahren. Sie erkunden ihr Unterbewusstsein und sprechen mit Traumcharakteren (die freilich nichts anderes als Geburten des eigenen Gehirns sind). Und es gibt Sportler, die im Traum Bewegungsabläufe trainieren. Den Start vor einem Hundertmetersprint zum Beispiel. Vor 50 000 Menschen im Stadion. Der Klartraum scheint so etwas wie ein Wunderland zu sein. Aber wie kommt man da rein?

Viele können mittlerweile etwas mit der Beschreibung des Phänomens Klartraum anfangen. Es gibt Annahmen, nach denen mindestens zehn Prozent aller Menschen schon einmal in einem Traum dachten: ,Hey, das ist doch ein Traum.‘ In einer Umfrage unter Studenten gaben einmal fast zwei Drittel an, schon klar geträumt zu haben. Die Zahlen variieren erheblich, über die Zahl der aktiven Klarträumer sagen sie wenig. Der Heidelberger Sportwissenschaftler Daniel Erlacher hat vor einigen Jahren im Internet ein Klartraumforum mit ins Leben gerufen, in dem mehr als 3000 Menschen registriert sind. Viele geben sich Tipps dazu, wie man in einen Klartraum kommt. Wer in seinen eigenen Traum einsteigen will, braucht nämlich ziemlich viel Geduld und muss manchmal wochenlang ein Traumtagebuch führen, in dem er „Traumzeichen“ notiert. (Das sind Szenen, die es in Wahrheit nicht geben kann. Wer zum Beispiel träumt, dass er mit seinem verstorbenen Physiklehrer auf dem Mond spazieren geht, sollte das aufschreiben.) Zusätzlich zum Tagebuchschreiben empfehlen einige den Echtheitstest. Klartraumaspiranten fragen sich deshalb mehrmals am Tag, ob sie wachen oder träumen. Das klingt dämlich, aber die Vergewisserung schärft das Bewusstsein für den eigenen Zustand. Ist man wirklich wach? Schläft man wirklich? Melanie hat es so sehr handfest in den Klartraum geschafft. Sie hielt sich ein paar Mal am Tag die Nase zu und testete, ob sie noch Luft durch die Nase ziehen kann. Es ging nicht. Irgendwann griff sie sich auch im Traum an die Nase und sog plötzlich trotzdem Luft in ihre Lungen. Die Unmöglichkeit verwirrte sie derart, dass sie sich darüber bewusst wurde, dass sie träumte.

Im Keller des Sportinstituts wird es langsam dunkel. Melanie hat das Licht angeschaltet, sie hat Daniel Erlacher und Marcel Richter begrüßt. Der 24-Jährige studiert Sport und schreibt ebenfalls eine Studienarbeit über das Klarträumen. Dann, gegen 22 Uhr, kommt Stefanie. Sie ist eine der Studenten in Daniel Erlachers Projektseminar „Schlaf, Motorik und Traum“. Heute ist sie das Versuchskaninchen. Sie hat noch nie klargeträumt und führt erst seit wenigen Tagen ein Traumtagebuch. Ziemlich schlechte Voraussetzungen für einen „luziden Traum“, wie der Klartraum auch genannt wird. Daniel Erlacher, Marcel und Melanie wollen es trotzdem versuchen. Melanie hat alles vorbereitet. Sie hat für das Experiment das Schlafkabuff im Keller hergerichtet. Dort steht ein Bett. Ein Mikrofon und zwei Boxen verbinden das Kabuff mit dem angrenzenden Computerzimmer. Stefanie zieht sich Schlafshorts an, putzt ihre Zähne und setzt sich auf einen Stuhl. Melanie und Marcel kleben ihr Elektroden auf den Kopf. Die messen ihre Augenbewegungen und übertragen sie als Kurven auf einen Computerbildschirm. Und dann erlischt das Licht.

Welchen Zweck unser Träumen hat, dazu gibt es immer neue Ideen und Forschungen, aber bis heute keine wirklich eindeutige Erklärung. Sigmund Freud hat sich vor mehr als hundert Jahren hingesetzt und Träume gedeutet. Der Traum war für ihn der Zugang zum Unterbewusstsein. Dort ging es nach seiner Vermutung um Sex, um unterdrückte Triebe. Ein paar Jahrzehnte später entdeckte ein Forscher in Amerika das Rapid Eye Movement, kurz REM. Es gibt demnach Zeiten in der Nacht, in denen wir die Augen sehr flott hin und her drehen. Fast immer träumen wir in diesen REM-Phasen. Versuche haben ergeben, dass der Mensch ziemlich sauer wird, wenn er dauernd aus diesen Phasen geweckt wird. Manche Forscher glauben deshalb, der Traum müsse eine biologische Funktion haben. Andere mutmaßen, der Traum sei lediglich „das Geräusch, das ein Gehirn erzeugt, das gerade arbeitet.“ Ein finnischer Wissenschaftler ist überzeugt, dass das Traumland ein Horrorland ist, in dem wir uns auf die Gefahren des Alltags vorbereiten. Und damit sind die Deutungsmöglichkeiten zum Zweck des Träumens noch lange nicht erschöpft. Daniel Erlacher glaubt, dass man im Traum gewinnen kann.

Der 37-Jährige erinnert mit seinem Bart an den jungen Reinhold Messner und gehört unter den Traumforschern in Deutschland zu den wenigen, die sich dem Klartraum widmen. Wer in diesem Fachgebiet arbeitet, tut sich mitunter schwer, Forschungsmittel einzuwerben, weil den Geldgebern noch immer nicht ganz einleuchtet, welchen Nutzen die Klartraumforschung haben könnte. Manche stecken das Phänomen noch immer in den esoterischen Bereich. Daniel Erlacher weiß um die alten Vorbehalte und macht trotzdem weiter. Er selbst begann mit Mitte 20, seine Träume zu steuern. „Dazu braucht man viel Zeit und viel Schlaf“, sagt er und gibt so auch die Begründung dafür, warum viele Klarträumer noch studieren. Erlacher widmete sich in der Promotion der Frage, ob man im bewussten Traum zum Beispiel Bewegungsabläufe trainieren kann. Er machte eine Studie, in der er Klarträumer bat, vor dem Schlafengehen eine Münze aus zwei Schritten Entfernung in eine Tasse zu werfen. Im Traum sollten sie das Gleiche versuchen und die Übung nach dem Aufwachen wiederholen. Ergebnis: Wer nachts übt, trifft am Morgen 40 Prozent häufiger als am Abend vorher. Erlacher kennt mittlerweile auch einige Berichte von Sportlern, die im Klartraum Bewegungsabläufe trainieren. Den Start beim Sprint. Den Wurf beim Kugelstoßen.

Am liebsten würde Daniel Erlacher nun allen Menschen ihr kopfinternes Trainingsgelände zugänglich machen. „Aber dazu braucht es eine Methode, mit der wir zuverlässig einen Klartraum induzieren können“, sagt er und blickt auf den Computer im Heidelberger Keller, auf dem eine von vielen Kurven mittlerweile fast eben geworden ist. Sie zeigt Stefanies Muskeltätigkeit. Alles ruhig. Stefanie ist eingeschlafen.

Am Klartraum klebte lange Zeit der Hauch des Esoterischen. Im Schamanismus zum Beispiel spielt der Klartraum eine wichtige Rolle. Viele Schamanen sehen ihn als Zugang zur „visionären Welt“. Buddhisten praktizieren schon recht lange Traumyoga, was im Kern nichts anderes als Klarträumen ist. Für sie ist es ein Handwerkszeug auf dem Weg zur inneren Leerheit. Vielleicht war es mit dieser Vorgeschichte kein Wunder, dass viele Wissenschaftler mit Argwohn auf die Arbeit der ersten Klartraumforscher blickten. Ein erster ausführlicher Bericht zum Klarträumen datiert aus dem Jahr 1867. Skeptische Wissenschaftler weisen bis heute darauf hin, dass man im Traum, also im Schlafzustand, nichts bewusst tun könne. Andere vermuten, dass es sich bei Klarträumen um kurze Wachepisoden während eines Traumes handeln müsse. Erst vor gut 30 Jahren gelang zwei Forschern so etwas wie ein Beweis für Klarträume. Einer von ihnen ist Stephen LaBerge. Er gab erfahrenen Klarträumern eine Aufgabe mit in den Schlaf. Er hielt sie dazu an, mit den Augen im Traum nach links und nach rechts und dann noch mal nach links und nach rechts zu schauen. Es klappte. Die Elektroden an den Augen zeichneten die Augenbewegungen auf. Es waren die ersten Botschaften aus dem Klartraum.

Ein sonniger Freitagmittag in München, Victor Spoormaker sitzt im Garten des Max-Planck-Instituts für Psychiatrie auf einer Bierzeltbank, sein rotes Hemd weit aufgeknöpft, nur wenige Stunden trennen ihn von einer Woche Urlaub in Kroatien. Spoormaker vermisst normalerweise das menschliche Gehirn, kümmert sich aber nebenher um den Klartraum. In Holland hat er eine Doktorarbeit darüber geschrieben, wie der Klartraum gegen Alpträume helfen kann. Er folgte damit der Wiener Psychologin Brigitte Holzinger, die als eine der Ersten versuchte, im Klartraum das Phänomen Albtraum zu bekämpfen.

Victor Spoormaker war selbst betroffen. Immer wieder erschienen ihm im Traum diese vier Kerle mit dem Maschinengewehr. „Sie sahen aus wie aus einem Al Capone-Film und drängten mich in eine Sackgasse.“ Doch in einer Nacht wurde Spoormaker in diesem Moment bewusst, dass er träumte. Ihm wurde klar, dass es keinen Grund gab, sich zu fürchten. „Ich drehte mich um, bin auf die Leute zu gerannt – und die schmissen ihre Maschinengewehre auf den Boden und rannten weg.“ Spoormaker wollte diese Befreiung mehr Menschen zugänglich machen und gründete nachtmerries.org.

Die Website bietet eine Art Internet-Tutorial, mit dessen Hilfe Albträumer sich selbst therapieren können. Angeblich leiden gut drei Prozent der Menschen unter Albträumen. „Das Interesse ist überwältigend“, sagt Spoormaker. Die Resonanz hat seinen Glauben an die Möglichkeiten des Klartraums gestärkt. „Die Leute könnten dort versuchen, ihre Höhenangst überwinden“, glaubt Spoormaker. Das Problem ist nur, dass die entsprechenden Therapien erst noch entwickelt werden müssen. Es müssen mehr Studien gemacht werden, für die es immer noch kaum Geld und vor allem zu wenige erfahrene Klarträumer gibt. Viele geben nach den ersten Misserfolgen auf. Deshalb versucht Daniel Erlacher die Sache mit Stefanie und dem Aufwecken am Morgen. Bei sechs von elf Schläfern hat sie schon funktioniert. Die Beschäftigung mit dem Traum direkt nach dem Aufwachen führt recht oft nach dem neuerlichen Einschlafen in den Klartraum.

Es ist jetzt kurz nach fünf Uhr am Sonntagmorgen im Heidelberger Keller. Melanie ist inzwischen zu Hause, Stefanie hat sechs Stunden geschlafen. Die Elektroden an ihren Augen erzeugen auf dem Computerbildschirm eine auf- und abflackernde Kurve. Sie steckt mitten in einer Traumphase. Es ist Zeit, sie zu wecken. „Guten Morgen Stefanie“, sagt Marcel ins Mikrofon und hört eine verschlafene Stimme murmeln. Er bittet sie, ihm ihren Traum zu erzählen. Sie soll jetzt nach Traumhinweisen suchen, nach kruden Szenen. Doch Stefanie geht es wie vielen Menschen nach dem Aufwachen: Wer die Traumbilder nicht sofort festhält, vergisst sie schnell. Sie erinnert sich nur an eine Szene. Dann beschäftigt sie sich mit dem Traumtagebuch der vergangenen Tage und gleitet nach einer Dreiviertelstunde wieder in den morgendlichen Schlaf, in dem der Mensch am meisten träumt. Daniel Erlacher und Marcel verfolgen am Computerbildschirm die Kurven. Sie sehen, wie Stefanie wieder in einen Traum gleitet. Die Augenkurve flackert.

Sie soll, so ist es vereinbart, ein Zeichen geben, wenn sie im Klartraum ist. Sie soll wie damals bei LaBerges Beweis die Augäpfel von einer Seite zur anderen rollen. Und tatsächlich beugt sich die Kurve. Linksrechtslinksrechts. Marcel weckt Stefanie sofort, damit sie nicht vergisst, was sie träumte. Mit verschlafener Stimme berichtet sie aus ihrem Traum: „Ich war bei einer Freundin in Heidelberg auf einer Party. Wir waren draußen auf einem Platz. Dann kam so etwas wie ein Vogel auf uns zu und sagte: Ich bin der Internet-Ersatz! Da dachte ich, dass das doch nicht sein kann, und wurde mir bewusst, dass ich im Traum bin. Ich bin dann raus und wollte die verabredete Bewegung machen, habe mit der Augenbewegung begonnen – kann mich dann aber an nichts mehr erinnern.“ Daniel und Marcel lächeln. Sie sind jetzt sehr zufrieden. Stefanie darf noch mal schlafen. Draußen graut der Morgen.